Eigentlich wollten Joscelyne und ihr bester Freund Cory bloß ihre Stadt erkunden. Die Wasserläufe haben es ihnen besonders angetan und an jenem schicksalhaften Tag, folgen sie einer Quellleitung zu einem alten Hallenbad, das niemals eröffnet wurde. Es wird von einer Gruppe von Punks bewohnt, die den beiden Freunden bei ihrem Vorhaben zwar helfen, jedoch mit schrägem Zeug konfrontiert sind, das mit dem Wasser in dem alten Hallenbad zu tun hat. Als Joscelyne die Göttin Eyionne bei einem Bad in der verlassenen Anlage beobachtet, wird schnell klar, dass dieser Ort eng mit der Frage nach Leben und Tod verknüpft ist.
Tod, Vergehen, das Aufgehen im All-Einen; diese Kurzgeschichte ist voller Wasser und befasst sich mit dem Thema Was-wäre-wenn. Sie spielt in einem verlassenen Hallenbad, das als Bauruine von einer Gruppe Punks bewohnt wird und dessen Keller bis hoch zur Oberkante des Schwimmbecken mit Wasser überflutet ist. Eigentlich wollten Cory und Joscelyne bloß die Kanäle ihrer Heimatstadt Laubelmont untersuchen, doch begegnet Joscelyne der Göttin Eyionne, die sie vor dem Sturz ins Schwimmbecken bewahrt. Das Wasser übt eine übernatürliche Anziehungskraft auf Joscelyne aus und als sie das Bad und seine Bewohnerinnen erneut besucht, entdeckt sie einen Zusammenhang zwischen den Bewohnern und der Seele des Gebäudes. Natürlich kommen die Spikes, eine Bande Jugendlicher, den beiden Held:innen in die Quere und das alte Hallenbad wird zum Schauplatz einer heftigen Auseinandersetzung, in der Joscelyne den Zankapfel in die Informationsebene transformiert. Wie sie das genau macht, was die Seele eines Gebäudes ist und wie Joscelyne das Rätsel um das überflutete Hallenbad löst, erfährst du, indem du einfach weiter liest.
Diese Novelle ist die Dritte in einer Reihe von Geschichten, in der ich mein Konzept und das Wordbuilding für meinen Roman ausprobiere, in der Joscelyne meine Hauptfigur ist. Belunes Schwert und Voltumnus Perlen sind bereits auf meinem Blog erschienen und freuen sich darauf, von dir gelesen zu werden. Mehr über die Hintergründe zu dem Text erfährst du in meinem letzten Blogpost.
Eyionnes Mitgefühl
Eine Novelle von JamesVermont; Lektorat: Alla Leshenko; Danke an die Testleser:innen in der Autoren-Community auf Discord, die beiden Babsys und an E.
Das Lilienbad Eyintal
Joscelyne summt eine Melodie, die sie seit dem Verlassen des alten Hallenbads im Ohr hat, und biegt auf den Canald-Steig ein. Eine Denkfalte ziert ihre Stirn, während die braunen, welligen Haare, die ihr ovales Gesicht rahmen, im gemütlichen Trab mitwippen. Es klappert metallisch in den Taschen ihres „Abenteuerrocks“ und an den Rändern ihrer halbhohen Stiefeln kleben Moos- und Grasreste. Das Wispern, das über ihre vollen Lippen kommt, wird zu einem rhythmischen Murmeln: „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ Joscelyne wiederholt die Zeile ein weiteres Mal, ihre dunklen Augen verfinstern sich auf eine Weise, wie sich nur die Augen eines Teenagers verfinstern können, und bleibt plötzlich stehen. Sie streicht sich sowohl Haare, als auch Denkfalte aus ihrem Gesicht und blickt über ihre Schulter. Dann beginnt sie auf dem menschenleeren Weg mit leiser Stimme zu sprechen: „Hallo Mami. Ich war mit Cory im alten Hallenbad. Da passiert schräges Zeug und ich brauche deine Hilfe.“
Der Canald-Steig in Laubelmont ist ein breiter, asphaltierter Weg, der mit einer gemütlichen Steigung die Unterstadt mit der Oberstadt verbindet. Er schmiegt sich dabei am Osthang des Tafelbergs entlang, der das Zentrum der Stadt bildet. Zu beiden Seiten wachsen Laubbäume und verdecken die Sicht auf die Umgebung. Hier würde niemand Joscelynes Gespräch belauschen.
Ihr Blick folgt dem Blätterwerk, das am steilen Hang links von ihr so weit nach oben wächst, dass sie den Kopf in den Nacken legen muss. Über den Wipfeln erscheinen die mittelalterlichen Wehranlagen Laubelmonts, die sich in der Oberstadt befinden. Aus Joscelynes Blickwinkel betrachtet, erwecken sie den Eindruck, als thronten sie im Himmel. Einen Moment lang genießt Joscelyne diesen Eindruck und spricht dann weiter: „Ich habe ein Problem und denke ständig im Kreis – außerdem werde ich den bescheuerten Ohrwurm nicht los, den mir die Punks im alten Hallenbad verpasst haben!“
Joscelyne versucht den goldenen, herzförmigen Anhänger, den sie von ihrer Mutter geerbt hat, zu berühren, kann ihn aber unter ihrem Shirt nicht erreichen, weil die Gurte ihres Rucksacks im Weg sind. Entnervt, was in ihrem Lebensabschnitt nicht ungewöhnlich ist, lässt sie den Kopf hängen und den Rucksack von ihren Schultern gleiten.
Der Canald-Steig wird nicht nur links und rechts von Handläufen abgesichert, sondern bietet auch in seiner Mitte eine Aufstiegshilfe. Und genau an diese lehnt sich Joscelyne jetzt. Sie zieht den goldenen Anhänger hervor, hält ihn zwischen den Fingern und atmet durch. Während sie das kleine goldene Herz zurück unter dem Shirt verschwinden lässt, schimpft sie halblaut:
Und ausgerechnet als es spannend wird, quatscht mir Cory dazwischen! Wie lange bin ich mit ihm schon in der Stadt unterwegs?! Eine halbe Ewigkeit! Eigentlich müsste er mich gut genug kennen, um zu wissen, wann ich mit irgendeinem körperlosen Wesen kommuniziere!
Joscelyne hält kurz inne und setzt einen bedauernden Miene auf: „Ja, stimmt, Mami. Es ist wieder schräges Zeug passiert.“
Es erscheint eine Denkfalte auf ihrer Stirn:
Etwas geht im Lilienbad Eyintal vor sich, aber ich bin mir nicht sicher, was es ist. Ich brauche deine Meinung, Mami. Wenn ich dir alles von Anfang an erzähle, dann erhalte ich bestimmt Klarheit. Und vielleicht verschwindet auch dieser beschissene Ohrwurm dadurch. Macht kaputt, was euch kaputt macht!? Was soll das heißen? Dass ich jedem, der mich disst, eine reinhauen soll? Schön wärs! Aber ja, ich weiß Mami, das geht nicht.
Frustriert reibt Joscelyne über die Denkfalte: „Ich hab’s eilig, ich muss weiter.“
Sie schultert ihren Rucksack und lässt sich im Gehen von der monotonen Wiederkehr aus Schatten, Laternen und Handläufen hypnotisieren, während sie spricht:
Wie schon gesagt, ich war mit Cory unterwegs – wir sind immer noch beste Freunde, also keine Angst. Wir haben an unserem Dauerprojekt gearbeitet, der Untersuchung der großen Entwässerungskanäle der Stadt. Heute stand das alte Hallenbad auf dem Plan, weil es von einer der großen Quellen am Stadtberg gespeist wird, was auch ohne magische Phänomene erstaunlich genug ist, aber da war heute etwas. Oh Mann …
Joscelyne lacht kurz auf und fährt fort:
Es wäre nicht das erste Mal, dass Cory und ich etwas ganz Anderes finden, als das, was wir ursprünglich gesucht haben.
Wir haben uns an der Aoyin-Quelle getroffen, bevor wir aufgebrochen sind, weil wir es beide gleich weit hin haben. Es ist mein Lieblingsplatz – da fällt mir ein, dass ich dir noch nie davon erzählt habe. Ich würde dir ja ein Foto schicken, aber weil das nicht geht, beschreibe ich es dir. Außerdem glaube ich, dass das „schräge Zeug des Tages“ genau da angefangen hat.
Die Aoyin-Quelle entspringt in einem kleinen Teich, der am Fuß des Stadtbergs liegt. Beobachtet man das glasklare Wasser etwas länger, entsteht das Gefühl, man könne bis in die untere Welt sehen. Zudem ist die Oberfläche des Teiches durch den unterirdischen Wasserstrom der Quelle immer in Bewegung. Neben dem Teich bei der Felswand wächst eine alte Trauerweide, deren Äste die Wasseroberfläche berühren; die Strömung versetzt sie in Bewegung und es kommt mir so vor, als bewege sich der ganze Ort.
Außerdem kreuzen hier regelmäßig Menschen auf, die Kerzen anzünden und bunte Stoffbänder in die Weide binden. Mich wundert es nicht, dass ich EYIONNE hin und wieder an der Quelle beobachten kann. Sie steht stellvertretend für alle Gewässer rund um den Laubelmonter Berg, als eine Art Mutter der örtlichen Wasserwesen. Sie ist auch die erste Göttin, die ich im Wachzustand gesehen habe, aber davon habe ich dir ja schon erzählt.
Also, heute hat Corys und meine Exkursion damit angefangen, dass Eyionne den Kiesweg zur Quelle entlanggerollt kam, weil sie nämlich im Rollstuhl sitzt. Zu Eyionne gehört auch ein Kirchenmensch und das ist das Schrägste daran, wenn ich Eyionne mit meinen echten Augen sehe. Nicht nur scheint sie querschnittsgelähmt zu sein, sie wird auch noch von einem Mönch BEGLEITET der Teil von ihr ist – wie so ein Parasit. Du kannst dir das so vorstellen, Mami: Die Silhouetten der beiden Wesenheiten sind miteinander verschmolzen und schwarz umrahmt, wobei sich der unmittelbare Raum um die beiden verbiegt. Ungefähr so, wie wenn man schräg durch ein Weinglas schauen würde.
Joscelyne hat mittlerweile die Hälfte des Aufstieges geschafft, als sie anhält und den Rucksack von ihrer Schulter gleiten lässt, um nach der Wasserflasche zu greifen. Bevor sie trinkt, wirft sie einen Blick auf den schmalen Streifen Himmel über ihr und schnuppert in die Luft: „Es riecht nach Regen. Dabei will ich nachher noch mal zum alten Hallenbad“.
Sie packt die Flasche wieder zurück in den Rucksack und zieht ihr Mobiltelefon hervor, um die Uhrzeit abzulesen. „Fuck! Ich muss mich beeilen! Wenn ich zu spät komme, nerven die Betreuer wieder rum.“
Noch während des Gehens schließt sie den Reißverschluss und schlüpft in die Gurte. Sie blickt kurz zur Seite und ergänzt:
In der Levana geht es mir eigentlich ganz gut. Aber würde Cory mich nicht immer wieder darauf hinweisen, käme ich dauernd zu spät. Ich meine, die Betreuerinnen dürfen mir in der WG eh keinen Hausarrest geben, aber sie nerven halt rum und brummen mir Tischdienst oder so ’nen Scheiß auf, und ich komme ja nicht absichtlich zu spät. Ja, ich weiß, Mami, ich sollte meine Uhr tragen und nicht dauernd mein Handy vergessen. Immerhin habe ich es jetzt dabei …
“Heute an der Quelle hätte ich Cory ganz genau beschreiben können, wie Eyionne aussieht”. Joscelyne ballt die Hände zu Fäusten und stößt einen Schrei des Ärgers aus.
“Cory hat mich sogar gefragt, ob da was sei! Und ich? Ich habe wieder einmal meinen Mund nicht aufbekommen. Das ist immer so mit anderen Menschen und mir … da kann mir der ärgste Scheiß passieren und ich sitze nur blöd da.” Um ihre Worte zu unterstreichen, verdreht sie die Augen, lässt die Zunge heraushängen und spricht dann etwas leiser weiter: “Zum Glück hab ich dich, Mami.”
“Der Grund dafür, dass ich dir von Eyionne erzähle, ist, dass sie mir im alten Lilienbad ein zweites Mal begegnet ist, und das muss einen Grund haben. Normalerweise queren Göttern nur dann mehrmals meinen Weg, wenn irgendwas vor sich geht …”
Joscelyne geht ein paar Augenblicke schweigend weiter, während ihre Gedanken kreisen. Schließlich setzt sie ihre Erzählung fort.
Vandalismus und Wind
Als Cory und ich in die Schwimmhalle eingebrochen sind, haben seine blaugrünen Augen geleuchtet. Das gefällt mir so an ihm, diese Begeisterungsfähigkeit. Sie ist ansteckend. Vielleicht locke ich ihn deswegen ständig mit schrägem Zeug aus seiner Bücherhöhle. Wie kann jemand, der sich so wenig bewegt, so dünn sein? Scheinbar macht Lesen schlank. Außerdem ist er praktisch. Da er zwei Köpfe größer ist als ich, kann er Schlösser öffnen, an die ich nicht rankomme, wie vorhin am Bad.
Joscelyne klimpert absichtlich mit ihren Rocktaschen und grinst.
Und weil er sechzehn ist, kommt er auch an andere Sachen ran, wie zum Beispiel Dinge, die es im Internet gibt, oder in Automaten oder unterm Tresen. Keine Sorge, Mami, ich rauche nicht, und ich nutze Cory auch nicht aus. Ich tue auch etwas für ihn: Bis vor Kurzem hatte er für eine Weile seine rotblonden Haare schwarz gefärbt. Er hatte es sattgehabt, dass man ihn dauernd verarscht. Ich hab mit ihm und seiner Tante eine Shopping-und-Styling-Tour unternommen und jetzt fühlt er sich wenigstens etwas wohler in seiner Haut, wenn man ihn verarscht.
Okay, keine Abschweifungen mehr.
Die Schwimmhalle sieht aus, als wäre sie einem postapokalyptischen Computerspiel entsprungen. Das wäre mein nächstes Foto für dich gewesen, Mami. Eyionne und Mama Nature haben ganze Arbeit geleistet. Na gut, sie hatten auch dreißig Jahre Zeit dafür. Der große Efeu, der neben der zentralen Säule der Halle herabhängt, ist episch! Das Dach ist in zwölf tortenstückähnliche Segmente unterteilt, die ähnlich einer Wendeltreppe an der Hauptsäule befestigt sind. Die Fenster, die in den Spalten zwischen den Segmenten angebracht sind, sind kaputt und von Pflanzen überwuchert, was für ein grünstichiges Licht im Raum sorgt. Die typischen Fensterfronten, die ein Hallenbad normalerweise auszeichnen, gibt es nicht. Um Vandalismus zu verhindern (netter Versuch!), hat man schwere Holztafeln eingesetzt, wie sie auf Baustellen üblich sind.
Cory hat mir den ganzen Skandal rund um den Bau des Lilienbads geschildert (ich hätte es auch nicht verhindern können). Vor lauter Namen und Millionenbeträgen ist mir schwindelig geworden. Wenn ich eine gebürtige Laubelmonterin wäre, hätte ich es vielleicht verstanden. So habe ich mir nur gemerkt, dass die Bürger lieber ein Bad mit Sportbecken gehabt hätten, und es vernünftiger gewesen wäre, vor allem durch die Nähe zu Krankenhaus und Psychiatrie, für ausreichend Therapie- und Massageräume zu sorgen, anstatt auf gut betuchte Wellnessurlauber zu spekulieren. Am Ende hat das Fundament der Hauptsäule nachgegeben und irgendwelche Streben sind gerissen, woraus sich ein unendlicher Gerichtsprozess über die zu zahlenden Reparaturkosten entsponnen hat.
Als ein dicker Regentropfen auf Joscelynes Nase fällt, bleibt sie im Schutz eines Baumes stehen und murmelt: “Das war sowas von klar! Immer kurz bevor ich zu Hause bin. Immer!”
Als sie jedoch bemerkt, dass der Tropfen von einem Blatt, und nicht aus einer Wolke stammen, reibt sie ihre Nase und setzt den Weg fort:
In dem Gebäude gibt es keine Ecken, was Cory und ich total krass finden. So ist zum Beispiel das Hauptbecken nierenförmig um die Hauptsäule angeordnet, wobei der Rest des kreisförmigen Grundrisses von zwei weiteren kleineren Becken und dem üblichen Kram, der ein Bad ausmacht, ausgefüllt wird. Das Gebäude hat zwei Etagen, die mit zwei zerknautschten Balkons in die große Halle ragen. Ihre Fronten erinnern ein wenig an Schwalbennester, bloß viel, viel breiter gezogen. Da sich das ganze Ding in Verfall und Bau gleichzeitig befindet, wirkt es chaotisch. Die „Gestaltungsfreude“ der verschiedenen Subkulturen, von denen mittlerweile schon einige hier tätig gewesen sind, trägt ihr Übriges dazu bei. Cory kommentierte den Anblick mit einem Seufzen und sagte: “Was für ein Chaos.”
Was mich überraschte, war die Tatsache, dass das große Becken mit Wasser gefüllt ist. Es reicht exakt an die dafür vorgesehenen Abläufe heran. Ich nahm mir kurz Zeit und ließ den Raum auf mich wirken. Licht und Schatten tanzten zu den Tropfgeräuschen und ein Blatt schlug Pirouetten im Zwielicht, bevor es am Wasser landete. Da erklang eine Melodie in mir. Langsam und getragen floss sie dahin und erzählte dabei eine Geschichte. Der Hauch einer Offenbarung lag darin verborgen, darum MUSSTE ich ihr lauschen. Ich war nicht neugierig auf den Inhalt, nein, ich war von dieser Melodie bewegt. Ähnlich dem Wasser in einem Bachlauf, wollte ich der Melodie bis zum Dorfteich folgen und dann in dem All-Einen, in das der Bach münden würde, abtauchen.
Tja, ich wäre beinahe tatsächlich baden gegangen, hätte nicht Toni, der aus dem Nichts erschienen war, mich am Arm gepackt und vom Beckenrand gezogen. In meinem Schwelgen wäre ich beinahe ins Wasser gefallen. Und glaub mir, Mami, das Wasser im Schwimmbecken des alten Lilienbads ist alles andere als der kitschige Dorfteich, den die Melodie versprach.
Tour de Punk
Toni wohnt zur Zeit im alten Hallenbad und erinnert mich an einen Igel. Er ist alt, gelt seine blondierten Haare stachelig auf und hat ein rundes Gesicht mit einem schmalen Mund. Seinen Nasenring trägt er an der gleichen Stelle wie ich, was ihn mir auf Anhieb sympathisch gemacht hat. Okay, zugegeben, auch die nette Geste, mich vor einem nassen Ausflug zu bewahren, hat dazu beigetragen. Als er mich am Arm gehalten hat und meinen Unterarm mit seiner nietenbesetzten Armschiene zerkratze, dürfte ich ihn angestrahlt haben. Er erwiderte mein Lächeln und habe ich da nicht einen Restlidstrich über einem seiner Igelaugen entdeckt?
Toni, seine gleichaltrige und ebenso knuffige Frau mit dem klangvollen Namen Smut sowie zwei weitere Freunde des Pärchens sind Altpunks, die in Laubelmont unfreiwillig Halt machen. Angeblich hat man sie aus dem Überlandbus geworfen. Die restlichen Bewohner des alten Hallenbads sind unsere lokalen Punks – zum Beispiel Conscious, der gleichzeitig mit Toni in die Halle gekommen ist. Im Gegensatz zu Tonis Gruppe haben die Laubelmonter Punks einen gewöhnlichen Wohnsitz. Zwar auch massenhaft Probleme und ein gespaltenes Verhältnis zu allem, aber obdachlos sind sie nicht. Cory, der „Punk“ studiert zu haben scheint, würde ihnen per Definition absprechen, Punks zu sein: „Die tun nur so.“
Aber gehen wir zurück zu dem Moment, als mich das Wasser in sein kühles Reich locken wollte, Mami.
Toni sagte also: „Was hast DU denn vor?“, und zog mich zurück „an Land“, was dafür sorgte, dass ich auch geistig ins Hier und Jetzt zurückkehrte. Ich brachte kein Wort über die Lippen.
Cory beantwortete die Frage für mich, indem er sagte: „Sie wandelt oft zwischen den Welten“, und grinste dabei, „und fällt andauernd auf die Nase.“
Toni bemühte sich, sein freundliches Gesicht zu verfinstern: „Passt bloß auf. Den Idioten da“, er nickte in die Richtung von Conscious, “müssen wir regelmäßig aus dem Becken fischen, und jeder, der versucht, ihn zu retten, säuft beinahe selber ab!“
Conscious ist ein seltsamer Typ. Er ist sicher zehn Jahre älter als ich und überragt in seiner Größe sogar Cory, wobei beide gleich dünn sind. Bis auf seine Stiefel und Jeans sieht er eigentlich nicht aus wie ein Punk. Da sind keine Nieten, Piercings, keine Farbe und keine Badges – lediglich ein kantiger Kopf und eine pflegeleichte Kurzhaarfrisur zeichnen ihn aus. Dazu trägt er ein Jeanshemd, das, jeden Modetrend spottend, bis zum Kragen zugeknöpft ist. Jedoch dringt stets schnelle Gitarrenmusik aus seinen Kopfhörern und er wippt kaum merklich im Takt. Auf Tonis Anspielung antwortete er mit einem ausgestreckten Mittelfinger.
Auf die Frage, ob sie hier wohnen, kamen wir ins Gespräch, und als alle Fragen beantwortet waren, bat uns Toni zu gehen. Cory erwies sich an der Stelle als der Diplomat von uns beiden: „Kein Problem, aber du hast uns gar nicht gefragt, warum wir hier sind.“
In der Sekunde blieb plötzlich mein Herz stehen. Zuerst erklang ein lautes Krachen, danach durchschnitten kreischende Gitarrenriffs das mystische Ambiente der Halle und eine Stimme, deren männlichen Besitzer man am liebsten Ohrfeigen würde, sang etwas von Bullen und Stiefeln. Ich verstand den Inhalt nicht, konnte jedoch aus der Entfernung erkennen, dass Conscious und seine Kumpels einen Lautsprecher umringten und „Spaß“ hatten.
Toni unterhielt sich mit Cory über die Musik hinweg und erklärte, dass jeder Mensch das Recht habe, zu gehen, wohin er wolle. Bloß sei das hier kein sicherer Ort für uns Kinder. Cories Gesicht sprach Bände – diese Antwort hatte er nicht erwartet. Mein bester Freund dürfte aber beschlossen haben, dem erwachsenen Mann zu vertrauen, denn er erläuterte Toni unseren Plan – freilich ohne das schräge Zeug. Dabei musste er dem Punk ins Ohr brüllen, um sich trotz der Lautstärke überhaupt noch Gehör zu verschaffen. Conscious-Trio wechselte den Song und drehte lauter: „MACHT KAPUTT, WAS EUCH KAPUTT MACHT!“ Mächtiges Geschrei. Jubel. Das alles diente nur dazu, eine darunter liegende Stimmung zu überdecken. Ich war dankbar, als Toni mir bedeutete, ihm und Cory durch eine improvisierte Baustellentüre nach draußen zu folgen.
Im dahinterliegenden Gang legte uns Toni freundlich, aber bestimmt, seinen Standpunkt dar: „Ich führe euch rum, aber dann haltet ihr euer Versprechen und verschwindet.“
Wir nickten eifrig und dann gingen wir los.
Den spannendsten Teil erledigten wir leider erst zum Schluss der „punkischen Führung“: das Nebengebäude. Es steht vielleicht sechs Meter von dem Rund des Bades entfernt und erinnert in seiner Form an einen eingedellten Tetrapack. Im Gegensatz zum Bad waren die Innenräume sowohl fertiggestellt als auch genutzt worden. Hier befanden sich die Büros der Verwaltung. Wind und Vandalismus hatten die Spuren der einstigen Betriebsamkeit verwischt. Wir gingen in den Keller, der für Toni nicht weiter interessant war, aber für uns Antworten bereithielt. Es gab Strom und folglich auch Licht. Schaltschränke summten und grün leuchtende Anzeigen verströmten ein Gefühl von Sicherheit.
„Da unten.” Toni postierte sich neben einer Metallleiter, die in einen Schacht führte und verschränkte die Hände vor der Brust.
Ich, die die ganze Zeit hinter den Männern gegangen war, um in Ruhe die Gegend auf mich wirken zu lassen, drängte mich nach vorne und blickte in den Schacht. Der Boden war eine Handbreit mit klarem Wasser bedeckt und in etwa so groß wie mein Zimmer. Ein wirklich dickes Rohr mit dem Durchmesser von einem Meter trat aus der einen Wand und verschwand in der gegenüberliegenden. Das war wohl der Kanal, den wir untersuchen wollten. In der Mitte zweigte ein weiteres Rohr ab und verschwand nach rechts durch die Mauer. Auf der Kreuzung hockte eine Vorrichtung, mit der man den Abzweig steuern konnte. Sie bestand aus einem großen Handrad, wie man es von Industrieanlagen kennt, und das man nicht nur durch Muskelkraft, sondern auch mithilfe eines Elektromotors in Gang setzen konnte. Die Kabel ermöglichten eine elektronische Überwachung. Aha!
Cory interpretierte: „Der Abzweig versorgt das Bad mit Wasser, oder?“
Toni räusperte sich und erklärte: „Jedenfalls sorgt er dafür, dass der Keller vom Bad überflutet ist. Es gibt drüben Richtung Krankenhaus einen Ablauf, den die Typen von der Stadt regelmäßig kontrollieren und reinigen.“
„Der sorgt wahrscheinlich dafür, dass nicht die ganze Neustadt absäuft”, kombinierte Cory.
Bei mir fiel der Groschen: „Dann hat nicht das Regenwasser das Becken gefüllt?“
Toni verneinte: „Es befindet sich immer exakt gleich viel Wasser im Becken.“
„Das ist wahrscheinlich wie bei der Aoyin-Quelle, wo das Wasser ebenfalls von unten kommt”, ergänzte Cory.
„Aus dem Keller“, fügte Toni an, aber ich begriff es nicht gleich.
„Was ist in dem Keller?“, fragte ich.
Toni grinste und lehnte sich an das Geländer: „Wenn du gut tauchen kannst, kannst du gerne nachsehen.“
“Das Wasser …”, wollte ich etwas über die Quelle erzählen, die das Bad mit Wasser versorgte, doch Cory unterbrach mich nach der dritten Silbe und sprach weiter: „Aber was ich nicht verstehe: Warum dreht die Stadt nicht einfach das Wasser ab?“
Toni lachte: „Was weiß ich! Ich bin froh, dass die hier nicht herumhampeln! Das gibt nur Stress!“
Ich wandte mich an Cory: „Kannst du erkennen, in welche Richtung dieses Ding steht?“ Ich zeigte nach unten.
Cory schien über etwas nachzudenken und sah sich um. Währenddessen stieß sich Toni vom Geländer ab und schritt Richtung Ausgang: „Die Spikes meinten, sie können es abdrehen und damit das Bad trockenlegen. Fragt doch die.“ Er klopfte dem rätselnden Cory auf die Schulter: „Und jetzt macht euch aus dem Staub. Ihr habt versprochen. Es gibt nichts mehr zu sehen.“
Cory und ich fuhren auf: „DIE SPIKES?!“
Toni hielt in der Tür und sah zu uns zurück: „Ihr kennt diese Halbaffen?“
Cory sprach halblaut: „Kennen ist eine Untertreibung. Wir sind öfter aneinandergeraten als uns lieb ist.“ Aber ich fragte sofort nach: „Warum wollen die das Bad trockenlegen?“
Toni stöhnte – offenbar von uns genervt – und verließ den Raum. Cory und ich folgten ihm auf den Fuß. Wir riefen ihm verschiedene Fragen hinterher und erst in der großen Halle hielt er an und war bereit, mit uns zu reden. Seine gequälte Miene verriet deutlich, dass er die Erwähnung der Spikes bereute und absolut keine Lust hatte, zwischen die Fronten zweier rivalisierenden Kinderbanden zu geraten.
Cory stellte Fragen zu den Spikes. Wann und wie lange sie hier gewesen waren, was sie Toni erzählt hatten, was sie hier wollten und ob sie die Funktionsweise der Anlage im Keller des Nebengebäudes verstanden hätten. Aber ich driftete in meinen Gedanken ab. Um die Spikes konnte ich mich später kümmern. Mit Sebastian, dem Chef der Gruppe, konnte man reden. Das hatte ich schon mehrmals getan – aber psst, Cory nie verraten! Die anderen würden mich dafür töten und auf Sebastians Seite sah es nicht anders aus.
Göttliches Planschen
Die Musik war verstummt. Drei der Punks hockten auf Kisten und Sesseln und starrten in ein kleines Feuer. Die Luft war nun deutlich kühler und die Wolken draußen waren dunkler geworden. Das Wasser wallte sanft in der Mitte des Beckens und strömte an die Ränder, wo es leise plätschernd verschwand. Ich versuchte mir vorzustellen, was geschah, wenn Wasser und technisches Menschenwerk aufeinandertrafen. Anstatt einer Erkenntnis überwältigte mich eine Welle aus Melancholie und Musik. Da war wieder die Melodie in meinem Kopf und trug meinen Geist fort. Erneut folgte ich dem Bachlauf auf die große endgültige Erkenntnis zu.
Ein leises Plätschern riss mich aus meiner geistigen Reise und mein Blick schnellte erschrocken in den hinteren Bereich des großen Beckens. Dort trieb Eyionne auf dem Rücken liegend im Wasser und paddelte leicht mit den Händen. Von dort aus glitt mein Blick weiter über den Beckenrand und entdeckte – wie erwartet – den Geistlichen mit dem Rollstuhl, wie er stoisch da stand und Eyionne im Auge behielt. Ihre sonst schulterlangen Haare fächerten im Wasser auf und ich fand, dass sie mit ihren schlampig blondierten Haaren einen wesentlich besseren Punk abgab, als Conscious. Sie war schlank und nackt, beides war mir unangenehm, aber was hatte ich zu erwarten, bei einer Wassergöttin? Da ich sie bisher nur im Rollstuhl gesehen hatte, bemerkte ich erst jetzt, dass sie einen Kopf größer sein musste als ich. Nicht wies darauf hin, dass Eyionne Notiz von mir genommen hätte, dennoch spürte ich die obligate emotionale Verbindung zu ihr. Teil von dem “schrägen Zeug” ist es, dass ich Dinge tue, als wären sie so selbstverständlich wie das Atmen, Mami. In Gedanken fragte ich sie nach dem Vorhaben der Spikes und ob ich es verhindern sollte. Sie meinte lediglich, dass es IHR egal sei, dem Hallenbad jedoch nicht.
Gerade als ich meinem Erstaunen über diese Antwort Ausdruck verleihen wollte, zog Cory an meiner Hand und riss mich aus der Verbindung: „Komm, wir gehen!“ Ich wurde wütend und wollte zu einer Schimpftirade ansetzen, da standen wir aber auch schon vor dem überwucherten Bauzaun an der Grundstücksgrenze und ich bemerkte Corys hochroten Kopf. Wie ich, war er kurz vorm Explodieren. Ich atmete durch und hörte mir an, was er zu sagen hatte.
Da Joscelyne die Pferdeschwämme erreicht, unterbricht sie ihre Erzählung. Die sogenannte Pferdeschwämme ist im Wesentlichen ein kitschig verzierter, viereckiger Brunnen mit zwei Rampen, den man in den Stadtberg gegraben und mit einer noch kitschiger verzierten Stützmauer gesichert hatte. Der Hauptgrund für seine Errichtung war aber nicht eine Vielzahl schmutziger Pferde, sondern die Quelle, die unter dem Brunnen entsprang. Jene, die das alte Hallenbad speiste.
Das Mädchen hält nicht an und schlängelt sich, ohne aufzusehen, durch eine Gruppe Touristen mit Regenschirmen, welche eifrig die Fontänen des Brunnens fotografiert. Joscelyne erreicht die Hauptstraße und spricht etwas leiser weiter, während sie auf eines der mittelalterlichen Stadttore von Laubelmont zugeht.
Mami, verstehst du jetzt, warum ich so verwirrt bin? Jetzt ist Cory der Meinung, das Bad retten zu müssen, während die Göttin offenbar cool damit ist, ihren Plantschort zu verlieren! Das passt nicht zusammen! Und das Schlimmste ist, dass Cory und ich keine Gelegenheit, darüber zu reden, gehabt haben, weil er mich nach Hause schicken musste! Ich kann nicht in Ruhe über schräges Zeug labern, wenn ich fünfzehn Minuten später in der Levana aufkreuzen muss! Mit dir geht das, aber nicht mit Cory!
Joscelyne wirft aufgebracht die Hände in die Höhe und atmet noch einmal tief durch, um sich zu beruhigen:
Schon klar, er will verhindern, dass ich Ärger mit meinen Betreuerinnen kriege. Er ist einfach zu nett für diese Welt. Aber Mami, kannst du wenigstens verstehen, wie sehr mir das auf den Geist geht?
Joscelyne betastet ihren Bauch: „Boah, ich frag mich, was es zu essen gibt. Ausgerechnet heute hat Asra Kochdienst.”
Joscelyne schaudert, als sie das Tor passiert. Der Nieselregen verstärkt sich und das Mädchen flüstert, damit die übrigen Passanten sie nicht hören können:
Fix ist, dass ich nach der Lernstunde wieder zum Bad gehe. Diesmal ohne Cory – der lenkt mich heute bloß ab. Und wenn ich schon dabei bin, schaue ich noch am Skater vorbei. Die Spikes sind bestimmt da.
Joscelyne blinzelt in den Himmel:
Vielleicht ist das keine gute Idee und ich nehme ihn doch mit – die Spikes können echt ätzend sein und vielleicht verbirgt Toni im alten Hallenbad eine unangenehme Überraschung vor mir. Neben Eyionne scheint noch etwas Anderes im Bad zu spuken … Ich spüre es nur unterschwellig und diffus. Es ist wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt – man kommt partout nicht drauf! Warum ist es Eyionne egal, wenn sie ihren Ort zum Schwimmen verliert? Warum sollte es dem Hallenbad wichtig sein, dass es erhalten bleibt, wo es doch nur schlecht sein kann, wenn der Keller überflutet ist? Es ergibt keinen Sinn …
Als sie an der nächsten Kreuzung abbiegt und die Levana in Sicht kommt, zieht das Mädchen die Schultern hoch. Schweigend überquert sie die Straße und verschwindet im Gebäude.
Schaumkronen
Etliche Stunden später, es ist schon abends, ist Joscelyne wieder allein und genießt die Ruhe. Sie sitzt in einer mit angenehm temperiertem Wasser gefüllten Badewanne und freut sich über den Schaum, der die ganze Wasseroberfläche bedeckt. Zwei Kerzen erhellen den Raum und unterstreichen die entspannte Stimmung mit ihrem weichen Licht.
„Hi Mami,“ sagt Joscelyne halblaut in den leeren Raum, kichert und betrachtet die Schaumkrone auf ihrem Knie, „es ist nicht so, wie du denkst …“ Dann erzählt sie von den Geschehnissen der vorangegangenen Stunden.
Corys Mutter hat mich in die Badewanne gesteckt, nachdem sie uns am alten Hallenbad abgeholt hat. Sie meint, in nassen Klamotten könne ich nicht draußen rumlaufen. Es war echt schlau, Wechselklamotten bei Cory zu Hause einzulagern. An die luxuriöse Badewanne habe ich gar nicht gedacht.
Sie klebt weitere Schaumkrönchen auf Nase und Kinn, klappt den Badspiegel von der Wand und betrachtet ihr Werk.
Aber im Ernst, Mami: Heute Vormittag hatte ich bloß ein seltsames Gefühl, aber am Nachmittag ging alles den Bach runter … Und jetzt chille ich hier und habs nicht mal verdient. Kennst du das Problem, wenn man etwas verhindern will, aber es damit überhaupt erst auslöst?
Sie klappt ihren Kiefer ein paarmal auf und zu, um die Schaumkrone auf ihrem Kinn zum Wackeln zu bringen, bis diese schließlich abfällt und den Blick darauf freigibt. Sie betrachtet ihr fliehendes Kinn und stößt den Spiegel zur Seite.
Cory nennt das eine „selbsterfüllende Prophezeiung“, aber das kann nicht sein. Wäre es so, dann wäre ich ein böser Mensch und, Mami, DU weißt, dass es nicht so ist.
Joscelyne taucht unter, um ihren Tränen zuvorzukommen. Sie führt die Unterhaltung in Gedanken weiter:
Es kann keine selbsterfüllende Prophezeiung sein, wenn die „Grundannahmen“ falsch sind, aber wenn man Grundannahmen hat, dann wäre es ja keine Prophezeiung mehr, sondern ein Begriff, den Cory aus dem Hut zaubert und den ich noch nie gehört habe! Mit dem Typ kann man einfach nicht streiten!
Joscelyne taucht auf, weil ihr die Luft ausgeht. “Meine Grundannahme war – das Wort habe ich übrigens von ihm –, dass alles leben will.” Sie streicht sich ihre braunen Haare aus dem Gesicht und spricht wieder mit halblauter Stimme: “Und das war falsch. Falsch und naiv.”
Sie setzt sich eine Schaumkrone auf den Kopf und klappt erneut den Spiegel aus. Sie stellt ihn so, dass sie alles oberhalb ihrer blauen Augen sehen kann – vor allem das Krönchen.
Es gibt durchaus Wesenheiten, die sterben wollen – deren berechtigter Wille es ist, zu vergehen. Wer bin ich, dem im Weg zu stehen? Ich kann es scheiße finden, jemanden zu verlieren, und deswegen traurig sein. Ich kann sogar in ein Wohnhaus für Kinder, wie die Levana, kommen, weil ich Menschen verliere, die falsche Entscheidungen getroffen haben. Aber ich hätte nichts davon verhindern können.
Keine Sorge, Mami, das sind keine Vorwürfe. Ich denke nur nach und versuche zu verstehen, wie das heute passieren konnte.
Joscelyne gelingt es, der Schaumkrone auf ihrem Kopf ein zweites Stockwerk aufzusetzen.
Liebenswürdigkeiten am frühen Nachmittag
Vielleicht fange ich dort an, als ich die Levana wieder verlassen habe. Nach dem Essen. Ich vermute, die Betreuerin hat alleine gekocht, und nicht Asra. Die drückt sich immer um ihre Aufgaben und niemand sagt etwas! Egal, ich schweife ab. Ich hab mir deinen alten Hoodie übergezogen und mein Longboard geschnappt. Drüben im Skatepark, der hier einfach nur Skater genannt wird, hockten Sebastian und seine Bande unter der großen Rampe, weil der Regen über Mittag stärker geworden war.
Der Skater liegt fünf Minuten entfernt, in der Nordhälfte der Metropole. Also in der Oberstadt, wo sich auch die Levana befindet. Auf der anderen Straßenseite beginnt der Campus, der die letzte Hoffnung der Stadtväter gegen den endgültigen Absturz der Stadt darstellt. Seit den Achtzigern wurde hier im Zehnjahresrhythmus ein Schulkomplex nach dem anderen hochgezogen. Vorher befanden sich auf dem Areal nur Baracken und Weltkriegsruinen. Der neueste Bau ist der Technologiecampus, der gute Chancen hat, nach dem Lilienbad Eyintal zum nächsten großen Politskandal der Stadt aufzusteigen. Von meinem Klassenzimmer aus blicke ich in die entgegengesetzte Richtung. Ich habe eine freie Sicht auf den öffentlichen Sportplatz, den Skater und die verfallene Abtei St.Canald, die, von einer Reihe Einfamilienhäusern aus den Siebzigern getrennt, dahinter liegt.
Der öffentliche Sportplatz ist oft Ziel von Aktivitäten der Levana, weil er so ziemlich alles bietet. Vom Hockeyfeld über den Fun-Court (wer hat sich dieses bescheuerte Wort ausgedacht!) bis zum Fußballkäfig. Weil ich von den Spikes nicht mit meinen Mitbewohnerinnen gesehen werden will, gehe ich meistens nicht mit. Glaub mir, Mami, bei den Sprüchen, die sie mir heute entgegengeschleudert haben, ist das wirklich besser so. Sebastian grinste mich FREUNDLICHST an, bequemte sich aber nicht dazu, aufzustehen und mich wie üblich mit Handschlag zu begrüßen. Was hatte ich erwartet? Zumindest einen trockenen Platz unter der Rampe hätten sie mir anbieten können. Aber sie ließen mich im Regen stehen.
Sebastian Leroy – oder auch einfach nur Jenkins, könnte jedes Mädchen in Laubelmont haben, wenn er sich für etwas anderes als Skaten interessieren würde. Er ist wie Honig. Süß, aber klebrig. Ein Charismatiker, Sportler und ein modischer Totalausfall. Sein Baseballcap verliert er höchstens beim Downhillen in die Unterstadt. Ich überlegte, mich auf mein Longboard zu setzen, blieb aber stehen, weil sich alles in mir verkrampfte – die ganze Crew von sechs Leuten starrte mich an. Wie ich solche Situationen hasse!
Joscelyne sinkt unter Wasser und bläst dabei Luft aus dem Mund, sodass es ordentlich blubbert. Als sie wieder auftaucht, imitiert sie Sebastian: „Na, was kann ich heute für dich tun, Josy?“
„Fick dich, Jenkins!“
Als Reaktion darauf stand Sebastians Flügelmann Brix auf und ich unterdrückte den Zwang, einen Schritt zurückzuweichen. Brix ist doppelt so groß und doppelt so breit wie ich. Wenn er wollte, könnte er mich unter den Arm klemmen und mit mir davon laufen. Tat er aber nicht, sondern applaudierte mir mit zynischer Begeisterung: „Bravo, Josy! Bravo, du bist ein Biest! Wohoo!“
Ich schenkte ihm mein schönstes Leck-mich-am-Arsch-Gesicht, worauf der Rest der Leute unter der Rampe in Lachen ausbrach. Avel interpretierte meinen Blick: „Pass auf, Brix, gleich beißt sie dir in die Wade!“
Avel ist ein Arschloch de luxe. Eigentlich hätte sein Witz nach hinten losgehen müssen, denn er ist gleich klein wie ich, bei weniger Gewicht. Das vergisst er aber andauernd, weil er sich für den Größten hält. In der Schule kursiert das Gerücht, dass seine Kleinwüchsigkeit von einer Krankheit verursacht wird und er Medikamente dagegen nehmen muss. Ich will nicht in seiner Haut stecken und vielleicht ist das die Erklärung, warum er so ein kleiner Pisser ist. Wie du siehst, Mami, werde ich schon wütend, wenn ich dir diese Episode auch nur erzähle. Also überspringe ich die weiteren „Liebenswürdigkeiten“, die wir an diesem frühen Nachmittag ausgetauscht haben.
„Ich hab gehört, ihr seid im alten Hallenbad gewesen?“
Sebastian zuckte mit den Schultern: „Was interessiert es dich?“
Ich fixierte ihn mit meinem Blick: „Toni hat mir von deinen Plänen erzählt.“ Er studierte währenddessen meine Schuhe.
Avel fuhr dazwischen: „Wer bitte schön ist TONI?“ Er spuckte mir vor die Füße – es war mir egal.
„Einer der alten Punks, die dort wohnen”, sagte ich.
Sebastian fragte erneut: „Und was interessiert es dich?“
Ich übersprang die zwei Fragen, die ich mir zuvor zurecht gelegt hatte, um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, weil ich nervös war, und kam gleich zum Punkt: „Warum wollt ihr das Wasser ablassen?“
Avel fragte: „Wieso sollten wir das Wasser ablassen?“
„Das will ich ja von euch wissen, du Schnelldenker!“
Sebastian ging dazwischen: „Komm schon, Joscelyne, was willst du schon wieder von mir?“
„Erreichen, dass ihr das Wasser nicht ablasst!“
Plötzlich sprang Sebastian auf und riss die Hände in die Höhe. Mit einem Mal kam Bewegung in die ganze Gang. Ich sprang zurück und stolperte beinahe über mein Board.
„Ach scheiß drauf!“, rief er und stapfte in den Regen.
Ich drehte mich zu ihm und streckte die Hand nach ihm aus. Er schnellte herum, ich erschrak und er schrie mich an: „Was willst du im verdammten Hallenbad, Mann?“
Ich trat einen halben Schritt auf ihn zu und sagte bloß: „Schräges Zeug.“
Sebastian tat den anderen halben Schritt auf mich zu und so standen wir fast Stirn an Stirn. Eigentlich Brust an Stirn, weil ich kleiner bin als er. Er roch gut. Die anderen Spikes waren auch auf den Füßen. Einer von ihnen hatte das Handy gezückt und hoffte auf den nächsten Hit bei People! Andererseits schien keinem die Konfrontation spannend genug, um die schützende Rampe zu verlassen und in den Regen zu treten.
„Warum“, zischte Sebastian, „tauchst du immer dann mit deinem Scheiß auf, wenn ich was vorhab?“
Und warum kapierte er nicht, was ich von ihm wollte? „Ich will doch nur drüber reden!”, knurrte ich.
Er ging einen weiteren halben Schritt nach vorn. Ich wich zurück, da sein betörender Duft nicht ausreichte, um meine auflodernde Wut zu besänftigen. Meine unterbewusst zusammengeballten Fäuste waren ein sicheres Zeichen dafür. Zum Glück rücke Sebastian mit der Sprache raus: „Die haben die Scheißhalle nicht genehmigt!“
„Die“ war die Gemeinde und „die Halle“ war der Indoor-Skatepark, der zwar versprochen war, aber anscheinend doch nicht gebaut werden sollte.
„Und jetzt wollt ihr im alten Hallenbad skaten?“ Ich war nicht gerade mitfühlend.
Er machte noch einen halben Schritt auf mich zu: „Ja, bis du daherkamst!“
„Ich würde dich nicht bitten, wenn es nicht wichtig wäre.“
Er riss die Arme auseinander und schrie: „Wo sollen wir sonst hin? Hey, sag mir das mal!“
Ich zuckte zusammen. Nicht weil ich erschrak, sondern weil ich den Impuls unterdrücken musste, zuzuschlagen. Meine Stimme wurde noch leiser: „Das Schwimmbecken ist keine verdammte Halfpipe!“
Sebastian wurde nicht leiser: „Ach ja? Wer wohnt denn da im Hallenbad bei den Punks? Irgendeine Fee, oder?“
„Wer sagt …“, setzte ich an, doch dann dröhnte Brix’ Stimme über den Platz: „Ey, Jenkins! Komm her!“
Jenkins folgte, doch dann drehte er sich noch mal nach mir um und rief: „Dass du hierher kommst und mit mir redest, soll nicht zur Gewohnheit werden, klar?“
Ich konnte nicht darauf antworten – mir blieb die Luft weg. Erst als ich wieder alleine im Regen stand, konnte ich durchatmen. Wie angespannt meine Arme und mein Nacken waren, merkte ich erst jetzt, als mein Körpergefühl zurückkehrte. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen und sah, wie sich mein Brustkorb hob und senkte. Der Regen wusch Sebastians Geruch sofort aus der Luft und ich beschloss abzuhauen, bevor mich einer der anderen zum Explodieren brachte. Ich stieg auf mein Board und rollte unbehelligt vom Skater. Mami, das war knapp – verdammt knapp.
Der Turm auf Joscelynes Haupt ist zusammengesunken und rutscht langsam auf ihr Ohr zu. Als sie das leise Knistern des Schaums hört, wischt sie sich über den Kopf und merkt, dass die Schaumkrone nun an ihrem Unterarm klebt. Seufzend lässt sie den Arm zurück ins Wasser sinken.
Beton und Ewigkeit
Bei Regen ist die Schwimmhalle des alten Hallenbads ein Dschungel aus tropfendem Efeu, Kaskaden aus Wasservorhängen, mäandernden Rinnsalen und graugrüner Düsternis. Das Wasser des großen Schwimmbeckens ist in Bewegung, überall gluckert und plätschert es. Im scharfen Kontrast dazu stand das Knacksen des Lagerfeuers, das die Punks in einer Nische entzündet hatten – ein Hort der Gemütlichkeit und der warmen Farben. Ich entdeckte Toni, winkte ihm aus der Entfernung und da er zu meiner Überraschung zurück winkte, gesellte ich mich zu ihnen.
Smut, Tonis Frau, hatte gerade etwas gesagt und die vier Punks, die da auf Kübeln und Kisten saßen, nickten zustimmend. Conscious, der diesmal keinen Kopfhörer trug, verschränkte die Arme vor der Brust und dachte nach. Als ich mich setzte, reichte mir jemand eine Flasche, doch Toni, der gerade neben mir Platz nahm, schnappte sie mir weg, deutete auf mich und zeigte ihm den Vogel. Toni gönnte sich einen Schluck – ich nahm an, dass es Wodka war – und gab die Flasche an Conscious weiter, der neben ihm saß. Der blickte auf das Etikett, als handelte es sich dabei um den Stein der Weisen, und antwortete Smut: „Es ist Ausdruck der menschlichen Arroganz, alles für die Ewigkeit bauen zu wollen.“
Mami, ich war mitten in eine philosophische Diskussion geraten!
Smut dürfte schulterlange Haare haben, würden diese nicht zur Hälfte in alle Richtungen abstehen. Vom Feuerschein beleuchtet, erweckte es ein wenig den Eindruck, als würde ihr blasses Gesicht in einer dunklen Wolke schweben. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen und eines ihrer Handgelenke umfasst, während sie in den Fingern der anderen Hand eine Zigarette hielt. Diese warf sie jetzt ins Feuer, wobei die Kettchen und Ringe um ihren Hals und ihre Handgelenke fein klimperten. Smut sprach mit mädchenhafter, schon fast frechen Stimme. Lediglich ein kratziger Unterton und ein Schuss Sarkasmus in der Klangfarbe verrieten, dass sie erwachsen war: „Das ist keine Arroganz. Das ist die Angst vor der Vergänglichkeit. Der ganze Beton ist doch nur der Wunsch, etwas zu erschaffen, das ein kurzes Menschenleben überdauert.“
Ich fand, dass beide recht hatten.
Conscious antwortete: „Aber warum streben manche Menschen danach, selbst ewig leben zu können? Da geht es doch nur darum, den Tod besiegen zu wollen. Wenn man so will, geht es darum, GOTT sein zu wollen.“
Smut lächelte, als hätte sie seine Antwort erwartet: „Ja, aber WER richtet denn in den meisten Religionen über Tod und Leben?“
Conscious stand kerzengerade auf, bewegte sich nicht und sah auf Smut herab, die ihn angrinste. Dann legte er eine Hand auf seine Brust und rief: „Ich selbst entscheide über Tod und Leben!“
Dann drehte er sich einfach um und ging weg.
Toni blickte ihm stumm und mit besorgtem Blick hinterher.
Smut fing meinen Blick auf und sagte zu mir: „Tut mir leid, dass du das mit anhören musstest. Conscious hat da ein Thema.“
Ich versicherte ihr, dass ich die Unterhaltung sehr interessant fand. Und noch bevor wir das Gespräch vertiefen konnten, war der Mann mit einer Gitarre in der Hand zurückgekehrt.
„Zum Glück“, raunte Toni und lehnte sich entspannt zurück.
Conscious begann zu spielen. Schon nach den ersten Akkorden wurde es ruhig am Feuer und mir wurde klar, dass es, anders als am Vormittag, nicht wieder um Bullen und Stiefel gehen würde.
Conscious schloss die Augen und seine Finger tanzten über die Saiten. Waren es die einzelnen Akkorde? Oder die Melodie, die er spielte? Vielleicht das, was der Punk in den Raum zwischen den Tönen packte? Was auch immer es war, es erfasste mich und trieb mich vor meinem geistigen Auge einen kleinen Bachlauf entlang, den ich schon gut kannte. Als seine spröde und hohe Stimme erklang, glitt ich aus meinen Träumereien zurück zu den Menschen ans Lagerfeuer. Holzscheite knacksten, die Gitarrensaiten vibrierten und die Stimme hallte von den Mauern wider. Ich spürte das Lauschen, das Horchen des Gebäudes und das Verstehen eines Willens. Conscious sagte mit seiner Musik das, was er in der Diskussion mit Smut nicht hatte rüberbringen können.
Was waren wir Menschen schon und was bildeten wir uns ein zu sein? Das fragte auch ich mich in diesem Moment. Würden wir mit unserem Verstand und unseren Werkzeugen wirklich in der Lage sein, alle Probleme zu lösen? Und vor allem die Probleme, die erst entstanden sind, weil wir Probleme lösen wollten. Verstehst du Mami, es ist wie ich vorhin gesagt habe: Ich hab das Problem erst erschaffen, bei dem Versuch es zu bereinigen.
Joscelyne schluchzt schwer, setzt sich auf und versucht das Weinen zu unterdrücken, weil sie nicht will, dass Cory oder seine Mutter sie hören. Joscelyne presst beide Hände auf ihren Mund, wird rot und Tränen rollen über ihre Wangen. Sie atmet durch ihre Hände und schmeckt die Bitterkeit der Seife im Badewasser. Nach mehreren Atemzügen hat sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle und lässt sich zurück ins Wasser sinken. Als sie weiter spricht, klingt ihre Stimme rau und gebrochen:
Cory ging fast augenblicklich ans Telefon und grüßte mich mit Namen. Klar, wer sonst würde ihn mit unbekannter Nummer anrufen, wenn nicht die, die ständig ihr Telefon irgendwo liegen lässt. Toni war so nett gewesen und hatte mir sein Handy geborgt, weil meines noch im Rucksack steckte, ich aber ohne Rucksack losgegangen war. Ich bat Cory, mich so schnell wie möglich am Skater zu treffen. Ich musste ihm endlich erzählen, was ich in letzter Zeit erlebt hatte. Was ich in Conscious Musik gespürt hatte, was ich von Eyionne erfahren hatte, bei was er mich alles gestört hatte! Ich gab Toni sein Handy zurück, bedankte mich bei der Runde am Feuer und machte mich auf den Weg zum Skater.
Die noble Teegesellschaft
Cory wartete einsam und verlassen am Skater auf mich – der Weg vom alten Bad in der Neustadt, hoch zum Skater in der Metropole, war zwar nicht weit, aber auch nicht frei von Steigung. Während ich, immer noch außer Puste vom Aufstieg, auf dem Longboard stehend, das kurze Stück vom Candald-Steig bis zum Skater auf ihn zurollte, stand er kerzengerade mit Schirm in der Hand da. Ganz als hätte er seinen Körper vergessen, weil er in seinem Kopf mit irgendwelchen Professoren ein Tässchen Tee schlürfte. Ich hätte gerne an der Tee-Gesellschaft in seinem Kopf teilgenommen, weil es in wirklich dichten Bahnen regnete. Meine Chucks waren durchweicht, der Skater verlassen und die Chance, die Spikes und Cory gleichzeitig von meiner These zu überzeugen, verspielt. Wozu hatte ich mich eigentlich so beeilt?
Anstelle einer Begrüßung zerrte ich Cory unter die Rampe, unter welcher zuvor die Spikes gesessen hatten: „Ich hab sie gesehen!“ Mein Kumpel lächelte betont liebevoll, spannte seinen Schirm ab, und ich wusste schon, was das bedeutete.
„Sie!“, verdeutlichte ich, aber Cory wusste freilich nicht, was ich ihm sagen wollte. „Erst an der Quelle, dann im alten Hallenbad.“ Er nickte, als Aufforderung weiter zu sprechen, obwohl er immer noch nichts verstand. „Aber es ist nicht IHR Hallenbad, obwohl sie es mag …“, ich verstummte.
Ich konnte Cory schon fast dabei beobachten, wie er sich in seinem Gehirn bei der noblen Männerrunde entschuldigte und seine Teetasse beiseite stellte, um sich nun meinem vollkommen zusammenhanglosen Gestammel zu widmen:
„Nachdem du jemanden an der Quelle und am Hallenbad begegnet bist, gehe ich davon aus, dass SIE keinen Körper hat und nachdem SIE das Hallenbad mag, wird es auch nichts mit den Entwässerungskanälen zu tun haben, die wir ja eigentlich untersuchen wollten, wenn ich freundlich daran erinnern darf.“
Ich rang mit mir selbst und brachte ein entschuldigendes Jain hervor.
Er sah mich erwartungsvoll an. Mami, nicht mal mein Psychologe hat bisher so viel Geduld mit mir gehabt wie Cory! Wir spielten das Frage-Schweigen-Antwort-Spiel und etliche Zeit später hatten wir Eyionne und ihr Erscheinen im Hallenbad erörtert. Nachdem Cory alles noch einmal zusammengefasst hatte, stellte er die alles entscheidende Frage: „Aber welche Bedeutung hat das alte Hallenbad?“
Ich grübelte: „Vielleicht geht es nicht um Eyionne, sondern um das Gebäude an sich.“
„Wie kommst du darauf?“
Mami, du glaubst es nicht! Ich erinnerte mich exakt an das, was Eyionne gesagt hat; dass es ihr egal sei, wenn das Wasser abgelassen würde, aber dem Bad nicht. Jetzt, neben Cory unter der Rampe sitzend, brachte ich es nicht über die Lippen!
Cory stellte bewusst eine seiner offenen Fragen: „Was hast du denn im alten Hallenbad wahrgenommen?“
Ich seufzte, weil ich andauernd etwas wahrnahm. Aber in der Sekunde, als Cory seine Frage stellte, tauchten Conscious und seine Musik vor meinem geistigen Auge auf: „Musik. melancholische Musik.“
„Beschreibe die Musik.“
Ich tat mein Bestes und dann sagte Cory zu meiner Überraschung: „Das ergibt Sinn.“
Er lachte: „Mach den Mund zu, Joscelyne, und hör mir einfach zu.“
Ich tat wie geheißen und gab mir Mühe, mein Gehirn zu beruhigen, das verzweifelt versuchte, dieselben Schlüsse zu ziehen wie er.
„Vielleicht ist das alte Hallenbad zu jung, um eine eigenständige Wesenheit zu produzieren. Schau dir die Stadtseele an – die ist knapp zweitausend Jahre alt. Das Hallenbad dazu ist gerade einmal …“
Ich unterbrach ihn: „Aber haben wir nicht gesagt, dass das Alter keinen so großen Einfluss hat, sondern es …“
Cory hob beschwichtigend die Hände: „Das ist nicht der Punkt.“
„Sondern?“
„Da sich die Seele nicht manifestiert, bedient sie sich vielleicht eines Freundes. Jemanden, der gleich schwingt oder die gleichen Ziele hat. Conscious zum Beispiel.“
Ich kombinierte: „Conscious. Er drückt aus, was das Hallenbad fühlt.“
Cory nickte: „Conscious singt von Tod und Vergänglichkeit, nicht verwirklichten Träumen und über die Existenz. Ich meine, was IST denn die große Erkenntnis, dein persönlicher Dorfteich aus der Vision, Joscelyne, wenn nicht der Tod?”
Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. So schön hatte ich mir das Sterben gar nicht vorgestellt. Und nach deinem Tod, Mami, habe ich mir viel zu dem Thema ausgemalt.
Cory berührte mich an der Schulter und fragte, wie es mir gehe. Ich war wohl wieder ein paar Augenblicke „eingefroren“ gewesen, wie es mir öfter passiert. Ich legte meine Hand auf seine, während eine Träne über meine Wange lief: „Du meinst … das Hallenbad will sterben?“
Cory lächelte: „So hätte ich das nicht ausgedrückt, aber ja. Und ich meine, es ergibt Sinn.“
Ich fabulierte vor mich hin, um mich von der tiefen Trauer abzulenken, die ich gerade empfand: „Der Bau hat nie seine Bestimmung erfüllen können. Er wurde beschädigt und nie repariert. Und man hat es absichtlich vergessen … und lässt es leiden.“
Cory nickte: „Ganz schön deprimierend, wenn du das so aufzählst.“
Wir schwiegen einen Moment. Dann kombinierte Cory weiter: „Wenn das Hallenbad sterben will, leuchtet der überflutete Keller ein. Das Wasser schädigt die Bausubstanz.“
Ich griff den Faden auf: „Eyionne hilft dem Hallenbad dabei, zu sterben, und hat zudem eine sichere Zuflucht, bis es eines Tages so weit ist.“
Cory fasste sich ans Kinn und vor meinem geistigen Auge trug er einen Frack, ein Monokel und einen Kinnbart: „Schauen wir mal, wo das Ganze hinführt … hmmm … wie funktioniert unsere Theorie ab dem Moment, wenn das Wasser abgelassen wird?“
„Das Hallenbad leidet länger“, sagte ich und zuckte mit den Schultern, weil mir zunächst nicht mehr dazu einfiel.
Cory warf mir einen prüfenden Blick mit seinen blauen Augen zu. Dann fiel mir doch etwas dazu ein: „Macht kaputt, was euch kaputt macht! Fuck! Deswegen hatte ich den ganzen Vormittag diesen beschissenen Song als Ohrwurm!“
Cory sprang alarmiert auf, auch wenn er nicht begriff, worauf ich hinaus wollte: „Welcher Ohrwurm?!“
„Fuck!“, wiederholte ich, „Es wird sich selbst verteidigen!“ Ich sah mich nach den Spikes um. „Hast du gesehen, wo sie hin sind?!“
Cory sog die Luft zwischen den Zähnen ein. Er hatte die Gefahr ebenfalls erkannt: „Als ich gekommen bin, waren die Zigarettenstummel noch frisch.“
Mein Puls stieg rasant an: „Wenn wir die Idioten nicht warnen …“ Ich wollte es mir nicht vorstellen.
Nur weil Cory äußerlich ruhig blieb, hieß das nicht, dass ihm das Schicksal der Spikes egal war. Er führte meinen Satz zu Ende: „… fällt mir als Horrorfilm-Fan einiges ein, was dann passieren könnte.“
In dem Moment entdeckte ich SIE. Wie immer, wenn man sie untertags antraf, schob sie einen Zwillingskinderwagen, trug Jeans, Top und eine Jacke, und war komplett gestresst – kein Wunder bei Zwillingen. Äußerlich mochte sie wie vierundzwanzig wirken, war klein, zierlich und ungepflegt. Doch sobald der Abend anbrach, hielt sie im alten Ringlokschuppen Hof und zeigte, wer sie wirklich war: die personifizierte Seele der Stadt.
Ich spürte erneut Corys Hand auf meiner Schulter. Ich nickte in die Richtung, in der sie noch immer mit der Regenhaut des Kinderwagens kämpfte: „Da ist Ailís!“
Cory fuhr hoch, konnte die Wesenheit nirgends entdecken und ermunterte mich: „Los, frag sie!“
Das Geniale an Ailís war, dass sie meistens dann auftauchte, wenn man sie brauchte. Also trottete ich los, wich einem Auto aus und erreichte den gegenüberliegenden Gehsteig. Sie drehte sich exakt in dem Moment zu mir um, als ich sie erreichte: „Hi!“
Ailís wandte sich wieder dem Kinderwagen zu und fluchte leise, aber mit Leidenschaft vor sich hin. Ich hatte ihre Aufmerksamkeit.
„Hast du die Spikes gesehen? Sebastian und die anderen?“, fragte ich.
Ihre Antwort war so simpel wie auch präzise: „Sind zum Hallenbad runter.“
„Aber von dort komme ich doch gerade!“, entgegnete ich.
Blitzschnell drehte sie sich zu mir um und ich erschrak. Ihre Blicke durchbohrten mich und mir standen die Haare zu Berge. Mit einer Bitch-Geste machte sie mir klar, dass sie meine Gegenfrage als undankbar empfand und ich stattdessen hätte artig Danke sagen sollen. Ich nahm die Füße in die Hände und rief nach Cory.
Ein Haufen verrückter Idioten
Mami, was auch immer Cory und ich uns dabei gedacht haben – bei allem, was gleich kommt, haben wir die Rechnung ohne die Punks gemacht.
Wir sind mit Corys Rad den Berg runtergebrettert und haben uns im Hallenbad aufgeteilt, weil von außen alles ruhig zu sein schien.
Joscelyne lacht mit einem bitteren Unterton und erzählt weiter:
Wie du dir denken kannst, war beides ein Fehler. Erstens anzunehmen, es sei ruhig, und zweitens uns aufzuteilen.
Sie seufzt: Wahrscheinlich wäre trotzdem nicht zu verhindern gewesen, was dann passiert ist.
Das Geschrei war schon am Abgang zum Keller des Nebengebäudes zu hören. Ich war voll Adrenalin, ich schwitzte und ich spürte die Vibration der Aufregung von Menschen und dem Gebäude. So musste es in den alten Zeiten den Arena-Kämpfern gegangen sein. Die Zuschauenden tobten, die Aufmerksamkeit sammelte sich in der Manege, die Spannung war greifbar und mit dem ersten Schlag entlud sich die Energie in einem tödlichen Tanz aus Reflexen, Können und magischer Kraft.
Der Gang in das untere Stockwerk des Nebengebäudes hatte mich in Flow versetzt, was nichts daran änderte, dass ich stolpernd im Wartungsraum zum Stehen kam. Im Wesentlichen war alles gleich geblieben, seit Cory und ich mit Toni hier gewesen waren. Außer dass der Raum jetzt voller Menschen war und Toni mittendrin steckte. Die Spikes markierten die fetten Gangster und die Punks … Na ja, waren uneins. Die einen versuchten zu deeskalieren, Smut rief sogar etwas von „Frieden“. Toni trennte Brix von einem der anderen Punks und Conscious glänzte durch Abwesenheit. Avel schmetterte Beleidigungen, von denen „Arschloch“ und „Wichser“ noch die Nettesten waren. Sebastian bemerkte mein Erscheinen als erster und einziger. Ich schaute von ihm hinüber zur Leiter, die nach unten zum Ventil führte – ich musste nachsehen, ob es schon verstellt worden war!
Wenn ich wollte, konnte ich mein Gewicht und meine Körperkraft gut mit den Ellbogen kombinieren – ich schaffte es bis zu der Leiter. Doch als ich mich umdrehte, um nach unten zu klettern, packte mich Sebastian von hinten am Kragen und riss mich zurück. Ich erschrak zum einen wegen der Grobheit und zum anderen, weil mir plötzlich die Luft wegblieb. Gleich darauf ließ der Druck nach und ich nutzte die Chance, um zu treten. Ich traf etwas oder jemanden und startete den nächsten Versuch, nach unten zu klettern. Kaum lagen meine Hände auf dem Geländer, umfasste jemand meine Taille und ich wurde nach hinten gezogen. Der Effekt war der, dass ich horizontal in der Luft hing und schrie. Der Versuch zu strampeln blieb erfolglos, also drehte ich meinen Kopf. Toni riss an Sebastian, der wiederum versuchte, mich vom Geländer wegzuzerren. Auf keinen Fall wollte ich in einem überfüllten Raum zu Boden gehen. Rückblickend betrachtet, fand ich es ganz witzig, so in der Luft zu hängen. Aber die ganze Zeit hatte ich das verdammte Ventil vor der Nase, das ich eigentlich … ja was wollte ich eigentlich, wenn ich am Ventil angelangt war? Jedem die Fresse polieren, der es nach unten schaffte? Mit Schmerzensgeldklagen eingedeckt werden? Eine blutige Nase?
Die Lösung war, das Ventil musste weg – niemand sollte mehr an diesem Handrad drehen können. Weg, außer Reichweite der Verrückten, die hier tobten.
Plötzlich fuhr ein Ruck durch meinen Körper und ich lag halb am Boden. Ich hielt meinen Oberkörper nur noch dadurch aufrecht, indem ich das Geländer umklammerte. Plötzlich durchfuhr mich ein heißer Schmerz und ich zog meine Beine an. Einer der Wahnsinnigen, die hier miteinander rangen, war mir von hinten auf den Unterschenkel getreten. Ich brüllte und wollte dem Übeltäter eine verpassen, sah dann aber, wie Toni den kleineren Sebastian im Schwitzkasten hielt und mich fragend ansah. Das beruhigte mich, also nickte ich zur Antwort – “Alles in Ordnung!” – und blickte hinunter zum Ventil, wie dieses mit einem großen gelben Handrad über den Abzweig wachte.
Das Handrad war durch einen Vierkant mit der Spindel verbunden. Durch Handrad und Spindel führte ein Bolzen, der die beiden Bauteile miteinander verband und somit sicherstellte, dass man nicht plötzlich das Handrad in der Hand hielt. Das Bolzen musste raus, das Handrad musste weg. Aber dann wäre da noch immer der Vierkant, den man mithilfe einer großen Zange drehen könnte! Gut, der Vierkant musste ebenfalls verschwinden. Ich ließ das Geländer los und atmete tief durch. Jetzt wusste ich, was geschehen musste, und ließ meine Beine über die Treppe baumeln. Mit einem Blick nach unten auf das Handrad vollführte ich eine ruckartige Bewegung mit beiden Händen. Es prickelte am ganzen Körper und ich spürte Kälte auf meiner Haut. Mir liefen Hitzewellen und kalte Schauer abwechselnd über den Rücken.
Joscelyne hebt ihren linken Arm aus dem Wasser und betrachtet die Gänsehaut auf ihrem Unterarm.
“In etwa so, Mami. Das Gefühl kommt sogar zurück, wenn ich davon erzähle”, sagt sie und blickt auf die gegenüberliegende leere Seite der Badewanne, in der sie sitzt.
Plötzlich hockte Sebastian neben mir und starrte mir mit offenem Mund ins Gesicht:
„Alter, warst DU das?“, er blickte die Leiter nach unten.
Jetzt blickte ich ebenfalls die Leiter nach unten. Sofort erkannte ich, was er meinte, denn aus dem Abzweig ragte eine nackte runde Metallstange. Das restliche Ventil, wie die elektrische Überwachung und das gelbe Handrad, waren nicht mehr zu sehen. Und etwas, das mir vor zwei Sekunden noch komplett logisch erschienen war, war durch Sebastians Blickwinkel zum abgefahrenen Zeug geworden.
Weil Sebastian offenbar live dabei gewesen war, brachte er – und wohl auch ich – MICH damit in Verbindung und in mir stieg Panik auf. Um keinen Preis wollte ich DAFÜR Ärger kriegen, sprang auf die Beine und boxte mich aus dem Raum nach draußen.
Mami, ich kann dir nicht genau erklären, wie ich das halbe Ventil verschwinden lassen habe. Aber ich weiß, wo es ist.
Joscelyne lässt ihre linke Hand durch das Badewasser gleiten.
Cory würde sagen, ich habe es „auf die Informationsebene transformiert“. Mir ist relativ egal, wo das genau ist und wie der mathematische Beweis dazu aussieht. Mir genügt zu wissen, dass es einen gibt. Ich weiß, wie ich in die Informationsebene komme, und ich weiß, wen ich dort fragen muss, wenn ich etwas erfahren will. Dass ich ein Ding, das man anfassen kann, „verschwinden“ lassen habe, macht mir doch ein wenig Sorgen. Vielleicht klingt das komisch, aber für mich fühlt es sich nicht „verschwunden“ an, weil es ja nicht zu existieren aufgehört hat. Es ist immer noch DA, man kann es halt nur nicht mehr anfassen. Aber was wäre, wenn mir das mit einem Menschen passieren würde? Zum Beispiel mit einem Typen, der mich vergewaltigen will? Würde er dann auch in der Informationsebene herumlaufen, wie die anderen Wesenheiten, die dort existieren? Könnte ich es zurückholen?
Im Bereich zwischen der Schwimmhalle und dem Nebengebäude stellte ich mir die ganzen Fragen erst mal nicht. Ich war außer Atem – mehr als sonst – und ich stützte meine Arme auf die Knie. Sterne tanzten vor meinen Augen und ich bekam schlagartig Hunger – das ist immer so, wenn ich „gezaubert“ habe. Ja, Mami, ich hab dir eingangs gesagt, dass es wieder schräg werden würde. Der Schmerz im linken Unterschenkel drang zurück in mein Bewusstsein und zwang mich, auf dem regennassen Boden eine Pause einzulegen. Mein Flow war dahin und die körperliche Anstrengung prügelte meine Wahrnehmung ins Hier und Jetzt – es war zum Kotzen.
Toni rief nach mir, als er den Platz zwischen den Gebäuden betrat, und ich rief ihn zu mir. Er wollte wissen, ob ich in Ordnung sei, und bot mir an, mich ins Trockene zu bringen. Ich wollte ihm keine weiteren Sorgen bereiten und log – er war höflich genug, nicht darauf herumzureiten. Doch da fielen mir siedeheiß Cory und unser Plan wieder ein. Ich entschied mich um und bat den alten Punk, mich zu begleiten. Mit zusammengebissenen Zähnen und einem Reststolz erreichte ich (ohne Tonis Unterstützung) die Schwimmhalle, während über unseren Köpfen der Donner grollte. Es hatte schon die ganze Zeit geregnet, aber jetzt ging das Unwetter erst so richtig los.
Eins für eins
Weil nur noch wenig Schaum auf dem Badewasser schwimmt, bemerkt Joscelyne einen blauen Fleck auf ihrem Unterschenkel und beginnt daraufhin ihren restlichen Körper abzusuchen. „Na toll!“, murrt sie. „Morgen tut mir bestimmt alles weh.“ Sie lässt noch etwas heißes Wasser in die Wanne fließen. Schließlich setzt sie ihre Erzählung fort:
In der Schwimmhalle erfasste Toni die dortige Situation deutlich schneller als ich und rief: „Nein! Tu das nicht!“
“WAS nicht tun?“, antwortete ich und sah mich um.
Toni rannte los und rief mir zu: „Er lockt die Leute ins Wasser und versucht sie zu ertränken.“
Das überraschte mich: „Was zum … !?“ Der restliche Satz kam mir nicht mehr über die Lippen, weil ich Cory am Beckenrand stehend entdeckte und schlagartig von der Angst um ihn übermannt wurde. Toni gelang es nicht, Cory am Sprung zu hindern. Noch bevor der Punk die Hand nach ihm ausstrecken konnte, war er mit einem Kopfsprung abgetaucht.
Toni rief mehrmals Conscious Namen, der sich wie Cory unter der Wasseroberfläche befinden musste, und tigerte am Beckenrand auf und ab, als könnte er den Punk damit zur Aufgabe bewegen. Ich hatte einige Meter vor dem Becken angehalten und starrte auf die Sturzbäche, die sich an der Mittelsäule entlang aus dem kaputten Dach in die Tiefe der Halle ergossen. Es war ein Schauspiel. Blitze zuckten, Donner dröhnte und mein bester Freund schwebte in Todesgefahr. Selbst ins Wasser zu springen würde nichts bringen, da Toni es ansonsten längst getan hätte. Er hatte ja erwähnt, dass jene Helfer, die Conscious zu helfen versuchten, Gefahr liefen, selbst zu ertrinken. Cory hatte das entweder überhört oder in der Not vergessen. Vielleicht aber hatte er selbst eine Vision gehabt. Wie oft wäre ich selbst beinahe im vermeintlichen Dorfteich gelandet? Da kam mir die Idee: Ich musste zurück an den Dorfteich!
Das Grübeln nahm mir ein wenig die Angst um Cory. Gemeinsam hatten wir schon so manches Abenteuer erlebt, sodass ich geübt darin war, unter Stress „nach drüben“, also in die Informationsebene, zu wechseln. Vor meinem geistigen Auge stellte ich mir vor, wie ich draußen vor dem Hallenbad stand. Dort war es ähnlich düster wie hier. Dann betrat ich das Gebäude und der Wechsel auf die Informationsebene vollzog sich. Ich schlich durch die Gänge und erreichte die Schwimmhalle.
Statt der getragenen und melancholischen Melodie begrüßte mich, passend zum Wetter, ein wilder Sturm aus Bässen und E-Gitarrenriffs, in die sich orchestrale Melodien mischten. Einmal meinte ich sogar, eine Kirchenorgel zu hören. Mami, wenn du dich jetzt fragst, ob ich mich auch selbst dort stehen sah – was ja nur logisch wäre –, muss ich dich enttäuschen. Was ich aber kann, ist, beide Ebenen gleichzeitig wahrzunehmen. Du kannst dir das wie bei diesen Schildkröten vorstellen, die mit einem Auge in den Himmel und mit dem anderen unter Wasser blicken können. Eine Freundin von mir nennt das „Zaunreiten“. Der Einfachheit halber haben wir die Ebenen (oder die Welten, wenn man so will) nummeriert. Da, wo ich mit meinem Körper herumrenne, ist die erste Welt. Dort, wo ich jetzt hin will, um mit dem Hallenbad zu reden, ist die zweite Welt, oder, wie Cory sie nennt, die Informationsebene. Mami, den Rest erspare ich dir jetzt.
Eine Weile suchte ich nach dem, was in der zweiten Welt das Hallenbad darstellen könnte, fand aber lediglich die Schwimmhalle als Ganzes mit seinem tosenden Wasser und dem rankenden Efeu. Als ich freundlich und offen die Frage nach dem Ortsgeist des Hallenbads stellte, realisierte ich, dass ich mich bereits IN IHM, also im Hallenbad, befand. Das war schräg und entgegen meiner Erwartungen. Keine Nymphe im Rollstuhl, keine gestresste Mutter, einfach nur „Geist“ (im spirituellen Sinne). Mir war es egal, ich musste meinen besten Freund retten!
Die simple Antwort des Lilienbads lautete: „Eins für eins.“
Ich wiederholte den Satz dreimal und sprach ihn sogar leise aus, um Toni nicht zu verängstigen, der noch immer am Becken auf und ab ging und Ausschau hielt.
Zwischen den Zeilen gelesen, bedeutete der Satz: „Wenn du mir weh tust, tue ich dir weh.“
Ich machte dem Gebäude klar, dass es den Falschen am Wickel hatte, doch es blieb stur. Da half nur Verstärkung holen, also rief ich gedanklich nach Eyionne. Schließlich hatten das Bad und sie einen Deal. Sehr zu meinem Missfallen wollte sie sich nicht zeigen, also musste ich zu ihr gehen.
Nope
Mami, wenn die Leute davon sprechen, dass Hexen fliegen können, dann stimmt das. In der zweiten Welt sprang ich auf das Dach des Hallenbads, drehte mich zum Stadtberg, nahm Anlauf und hechtete in die Luft. Je besser ich die Orte hier drüben kenne, desto schneller fliege ich. Oft so schnell, dass ein Wimpernschlag genügt, um ans Ziel zu gelangen. Heute hingegen benötigte ich für den Weg fast eine Ewigkeit und spürte, wie meine Angst um Cory an den Rändern meiner Konzentration kratzte. Hier noch die Biegung um den Berg. Dann tiefer. In den Gleitflug übergehen und schließlich auf dem Kiesweg landen. Die Trauerweide grüßen, schnell hinüberhüpfen, sie umarmen und mich von ihr trösten lassen. So viel Zeit musste sein.
Eyionne saß auf einem großen Stein, den es in der ersten Welt nicht gibt, und bürstete sich die Haare. Als ich auf sie zuging, hielt sie inne und verfolgte mich mit ihren Blicken. Ohne stehen zu bleiben, drehte ich mich instinktiv nach dem Geistlichen um und entdeckte ihn am Teich stehend. Wegen ihm war Eyionne nie frei. Keiner der Gottheiten, die in Laubelmont abhingen, waren das – er hatte sie alle im Griff, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Als ich mich wieder Eyionne zuwandte, saß sie nach wie vor auf ihrem Fels und war mit ihrer Haarpracht beschäftigt. Doch plötzlich hatte sich etwas verändert. Ich blieb erschrocken stehen und sah mich um: ER hatte mich auf den Kiesweg zurückversetzt, auf dem ich gelandet war. Ich rief Eyionnes Namen, doch anstelle einer Antwort sah sie mich nur mitfühlend an. Ich lief los, um die Distanz schneller zu überwinden. Es war, als liefe ich auf einem Laufband. Der Boden bewegte sich, aber die Landschaft stand still. Ich stieß in Gedanken einen Schrei der Frustration aus und kassierte einen Seitenblick des Mönchs, der unbeeindruckt mit dem Rollstuhl am Ufer des Sees stand. Dieser Wichser! Eines Tages würden meine Freunde, Cory und ich diesen Zauber brechen und dann würde dieses Monster verschwinden. Eyionne wäre wieder frei. Bis dahin war ich gezwungen, woanders Hilfe zu suchen.
Mit der Superkraft der Bequemlichkeit
Ailís findet man in ihrer Rolle als Stadtseele immer im alten Lokschuppen. Dieser liegt, von der Aoyin-Quelle aus gesehen, auf der anderen Seite des Stadtberges, hinter der Unterstadt im Bahnhofsviertel und von dort aus noch ein deutliches Stück Richtung Wolfsberg. Was für dich vielleicht weit entfernt klingt, Mami, war für mich nur ein Wimpernschlag. Diese Strecken sind für mich gewohnte Wege – in beiden Welten. Ich landete vor dem Lokschuppen, der hier einem Palast gleicht, und nicht einem traurigen Überbleibsel aus der goldenen Zeit, als Laubelmont eine Eisenbahnerstadt gewesen ist. Was jedoch mit der realen Welt übereinstimmt, ist der Birkenwald, der rund um den Lost Place gewachsen ist. Meine Freunde und ich kommen regelmäßig hierher, betreten den Lokschuppen aber durch eine Seitentür, und nicht wie „hier drüben“ durch das mittlere Tor.
Standesgemäß saß die Stadtseele auf ihrem Thron, der, wie der Stadtberg, aus Sandstein besteht. Anders als bei Regentinnen üblich, ist Ailís eine Modeikone und mit der Superkraft der Bequemlichkeit gesegnet. Sie ließ die Beine über die Lehne baumeln, aß genüsslich eine Traube und blickte mir ganz entspannt entgegen. Keine Spur von der gestressten Mutter, der ich noch vor ein, zwei Stunden begegnet war. Keine Jeans und erst recht keine schmutzige Jacke. Ailís in ihrer Rolle als Stadtseele trägt einen dramatischen Hosenrock, der bis zur Hüfte geschlitzt ist, und zeigt perfekt gepflegte Beine. Ihre Haare sind kurz, makellos blondiert und modisch frisiert. Was sich gleicht, sind das Gesicht, vor allem die Augen (über Ailís Make-up will ich gar nicht erst reden, es war göttlich!), Größe und Figur sowie die Kette, die sie um ihre Hüfte trägt. Sie besteht aus einzelnen Gliedern, die aus Blech gefertigt sind und wie Hände aussehen. Ihre beiden Kinder waren nirgends zu sehen.
Das Gespräch mit ihr verlief anders. Ich verneigte mich, wartete höflich, bis sie mich zu sprechen aufforderte, und zeigte ihr, dass Cory auf dem besten Weg zu sterben war. Wie ich ihr etwas “zeigen“ kann, ist schnell erklärt: Es ist die Informationsebene, die das ermöglicht. Alles, was ich als Mensch in der ersten Welt durch Kommunikation an Informationen gewinne, geschieht hier in einem Satz. In der ersten Welt bin ich es gewohnt, zusätzlich zur Sprache die Mimik meines Gegenübers zu lesen. Ich beobachte die Gestik und beachte, in welchem Umfeld etwas gesagt wird. Ich greife auf meine Intuition zurück und berücksichtige in meinen Beziehungen sogar die Erwartungshaltungen. Zwar tue ich das alles, ohne darüber nachzudenken, aber es ist verdammt kompliziert.
In der zweiten Welt ist das anders. Da verhält sich ein Satz wie ein Schlüssel in einem Schloss. Er ist viel kleiner und simpler als das Schloss. Dennoch ist er in der Lage, die komplizierte Mechanik des Schlosses in Bewegung zu setzen. Für Eyionne bedeutete das, mit diesem einen Satz Corys und meine Lage komplett erfassen zu können. Darüber hinaus konnte sie selbst weitere Informationen aus der Informationsebene gewinnen. Eigentlich weiß man hier immer sehr viel.
Eyionne richtete sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Eine Weile blickte sie mit versteinerten Gesichtszügen in die Ferne und sah mich dann an. In diesem Augenblick wäre ich fast ohnmächtig geworden vor Scham. Schließlich sagte Ailís: „Nein, er nicht.“
Klar, Mami, der Satz war eine Lebensversicherung für Cory. Ailís stellte klar, dass mein bester Freund hier und heute nicht ersaufen würde. Ich jauchzte innerlich. Darüber hinaus bedeutete das in anderen Zusammenhängen dermaßen viel, dass ich noch morgen früh mit dem Aufzählen beschäftigt sein werde.
Arschbombe
Vom Lokschuppen kehrte ich zurück ins Hallenbad. Dort versicherte mir dessen geistige Präsenz, dass „Eins für eins“ seiner Meinung nach entgegen Ailís Machtwort immer noch Thema war. Auch wenn Cory überleben würde, wäre das Lilienbad Eyintal nicht zufrieden. Mir fiel trotzdem ein Stein vom Herzen, als Cory prustend und mit lautem Platschen zurück an die Wasseroberfläche kehrte. Toni reichte ihm die Hand und half ihm aus dem Becken. Ich umarmte beide.
Da ich jetzt nahe am Becken stand, konnte ich Conscious entdecken, der im trüben Wasser als dunkler Schemen sichtbar war und sich wand und zuckte – ein Überlebenskampf. Er würde nun das Eins-für-eins werden. Das konnte ich nicht zulassen.
Ich sagte zu Cory: „Ich bin noch drüben.” Er verstand sofort – wir sind eben ein Team. Er begann Tonis Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem er ihm mit aufgeregter Stimme von seinem Kampf auf Tod und Leben unter Wasser berichtete. Gerne hätte ich ihm dabei zugehört, aber ich musste mich um das beleidigte Hallenbad kümmern.
Das tat ich, indem ich es bequatschte. Ich diskutierte mit ihm. Ein Toter würde negative Aufmerksamkeit erzeugen. Noch mehr Menschen würden hier herumlaufen und es beim gemütlichen Verfallen stören. Und vielleicht würde man es am Ende sogar abreißen, weil hier dauernd Leute „verunglückten“. Tja, was soll ich sagen, Mami? Ich war mal wieder zu naiv. Dieses Gebäude konnte jedes Argument entkräften, jeden Impuls, der Conscious aus den Klauen des Bades hätte befreien können, lief ins Leere. Da war kein Punkt, an dem ich hätte einen Hebel einsetzen können. „Eins für eins“, die ganze Zeit. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, ich hatte diesen Song nicht ohne Grund bei unserem ersten Besuch zu hören bekommen. Er war eine Warnung gewesen. Cory und ich waren durch unsere Neugier als Bedrohung deklariert worden. Ich hatte zweimal Glück gehabt; Cory war in die Falle getappt, doch ich konnte ihn freiverhandeln; Conscious würde das jetzt ausbaden müssen. In seiner zügellosen Rachsucht zerstörte das Hallenbad nun seinen einzigen Verbündeten in der Welt der Lebenden.
Ich arschbombte ins Wasser. Ganz real, in der ersten Welt. Weder Toni noch Cory hatten eine Chance zu reagieren oder hatten es kommen sehen. Ich bin mir sicher, sie hätten mich zurückgehalten und Conscious ersaufen lassen. Ich musste nützlich sein, auch wenn ich Gefahr lief, selbst zum Eins-für-eins zu werden. Das Hallenbad wollte sterben – es sah keine Alternativen mehr. Es verteidigte seinen Plan mit allen Mitteln und dachte dabei in Gut oder Böse, und das auf eine fatalistische Weise. Der Dorfteich, die Erkenntnis, der Moment der Schwerelosigkeit, das All-Sein. Verdammt, Mami, es sehnte sich nach der Einheit mit dem Universum!
Als ich ins Wasser gesprungen war … Ja, Mami, ich weiß: Während eines Gewitters, im fast Dunklen, in einem baufälligen Gebäude, mitsamt allen Klamotten und mit dem Ziel, einen depressiven erwachsenen Punk zu retten, der eventuell ein paar Leute ertränkt hat. Das war so was von dumm!
Als ich ins Wasser gesprungen war, wollte die Vorstellung, dass jemand ANDERS absichtlich sterben will, nicht in meinen Kopf. Es wäre ja leicht zu behaupten gewesen, das Bad hätte den Mann „ermordet“, ihm „seinen Willen aufgezwungen“ – oder nicht, Mami? Da es auch mich „gelockt“ hat, weiß ich es besser. Es hatte mir lediglich ein Angebot gemacht – ich hätte es annehmen können. Mehr nicht. Ich hätte mich auf seine lethargische, melancholische und morbide Schwingung einlassen können und hätte während eines wunderschönen Hirnficks den Tod gefunden. Vielleicht hätte ich davor noch ein paar vor Leid triefende Songs geschrieben, wie Conscious es getan hat. Es wäre so leicht gewesen, mit dem Finger auf das potenzielle Böse zu zeigen und ihm zu geben, was es verlangt hat. Doch verdammt, Mami! Cory hatte recht, denn im Leben gibt es selten einfache Antworten, und so kam auch mein Umdenken recht schnell. Conscious befand sich nicht weit unter der Wasseroberfläche und wand sich in alle Richtungen. Sein Gesicht war bleich und verkrampft.
Als ich nahe genug war, um ihn berühren zu können, bemerkte er mich und hörte auf zu zappeln. Nun gelang es mir, ihn zu packen. Doch plötzlich griff er nach mir und zog mich noch näher zu sich. In der Sekunde fiel mir wieder ein, was Toni über Conscious gesagt hatte, und ich geriet in Panik. Sofort ließ ich ihn los und strampelte in die entgegengesetzte Richtung. Doch Conscious riss an meinem Arm und versetzte mich damit in eine Drehbewegung. Aus Angst, die Orientierung zu verlieren, ruderte ich mit Armen und Beinen und es gelang mir, mich irgendwie zu befreien. Allerdings trat mir Conscious, aus Versehen oder mit Absicht, in den Bauch. Ich nahm einen gehörigen Schluck Wasser und verlor die Kontrolle über meinen Körper.
Joscelyne starrt in das Badewasser und atmet leise und flach. Durch die Badezimmertür dringt Klaviermusik und Joscelyne erwacht ruckartig aus ihrer Starre. Als wäre keine Zeit vergangen, spricht sie weiter: „Das war eine der grausamsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Du weißt, dass du unter Wasser nicht atmen kannst, hast aber trotzdem keine Chance, es zu verhindern.“
Joscelyne fröstelt und betrachtet ihre Hände: „Wird Zeit, dass ich hier rauskomme.“
Sie betätigt den kleinen Hebel am Ende der Badewanne und das Wasser beginnt langsam abzulaufen. Den Vorgang fasziniert beobachtend, führt das Mädchen ihre Erzählung fort:
Cory war es, der mich geborgen hat, während Conscious ertrank. Das Erste, an das ich mich wieder klar erinnern kann, ist, wie er mit dem Rücken nach oben im Schwimmbecken trieb. Toni beteuerte immer wieder, dass Conscious ein komplett friedlicher Mensch gewesen sei. Klar, wenn er gerade niemanden ins Wasser lockte und ertränkte … Seine symbiotische Verbindung mit dem Geist des Lilienbades spricht ihn da nicht frei. Zwar habe ich Toni gefragt, ob die anderen Opfer etwas gegen das Hallenbad gehabt oder gesagt hätten, doch er gab zu, niemals darüber nachgedacht zu haben. Weder Toni, noch Smut, noch die anderen haben gewusst, was mit ihm los war. Ich habe es zu Beginn genauso wenig gesehen. Das ewige Problem mit dem abgefahrenen Zeug ist, dass man es niemandem so einfach erklären kann. Erst recht nicht Toni.
Das Unwetter war noch immer ernsthaft daran interessiert, Laubelmont in Atlantis zu verwandeln. Die Hagelwolken färbten das diffuse Licht gelblich, Blitze zuckten und sie waren so nahe, dass sie selbst am Tag blenden konnten. Der Donner grollte nicht einfach nur, er krachte mit zerstörerischer Lautstärke. Die Sirenen heulten. Sturzbäche ergossen sich vom Dach in das Schwimmbecken, wo immer noch Conscious Leiche trieb.
Ich lehnte an einem Betonwürfel, der seine angedachte Aufgabe niemals erfüllen würde. Toni saß auf dem Würfel und Cory hockte neben mir auf dem Boden. Mir war übel – vermutlich von dem Wasser, das ich geschluckt hatte, oder dem Bauchtritt oder meiner emotionalen Achterbahnfahrt.
Sebastian musste die Halle betreten haben, als ich dabei war, die Heldin zu spielen, und hatte demnach meinen Überlebenskampf mit angesehen. Wie peinlich! Aber ich hätte nicht sagen können, ob das an mir oder ihm lag. Zuerst studierte er mich eine Weile, trat auf der Stelle und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Schließlich spuckte er irgendwohin, kam herüber, zog wortlos sein warmes Hemd aus und bot es mir an. Ich zitterte vor Kälte und wusste nicht, ob ich ihn dafür hassen oder umarmen sollte. Vermutlich war der Ärger über meine eigene Unsicherheit der Auslöser dafür, dass ich ihn, statt das Hemd anzunehmen, lieber anschnauzte: „Behalte dir dein Hemd! Soll ja nicht zur Gewohnheit werden, dass du mir hilfst, oder?“
„Ich … äh …“, stammelte er, verkrampfte seine Finger um den herrlich flauschigen Stoff und zischte beim Aufstehen: „Bitch!“ Dann ging er Richtung Ausgang. Ich sah ihm wütend hinterher, bis ich Corys Hand auf meiner Schulter spürte. Meine Hände waren zu Fäusten geballt und mein Atem ging tief und heiß.
Joscelyne seufzt: „Es wäre ein toller Moment gewesen, um das Kriegsbeil zwischen unseren Crews zu begraben. Aber ich bemerkte erst in dieser Sekunde, wie sehr mich seine Aussage am Skater verletzt hatte.“
Wenn Dir das gefällt …
Eyionnes Mitgefühl
Sie steigt aus der Wanne, trocknet sich ab und schlüpft in ihre Ersatzklamotten. Danach wickelt sie ihre schulterlangen Haare in ein Handtuch, öffnet das Fenster im Badezimmer und verlässt den Raum.
Im Gang riecht es immer noch nach der Suppe und dem Chai, die Corys Mutter serviert hat. Auch die Klaviermusik stammt von ihr. Sie sitzt im Wohnzimmer an ihrem E-Piano und arbeitet an der Musik für einen Werbespot. Das hat sie den Kindern während der Autofahrt vom Hallenbad nach Hause erzählt. Dass Joscelyne an der Wohnzimmertür vorbei in Corys Zimmer huscht, bemerkt sie nicht.
Corys Zimmerfenster zeigt nach Westen, wo die Sonne in einem dramatischen Orange unter den Horizont taucht, während über dem Haus noch die dichten Wolken des Gewitters wabern. Leichter Sprühregen hängt in der Luft und dicke Tropfen funkeln im Abendlicht. Davon bekommt Cory nichts mit, denn er liegt, in einen gemütlichen Trainingsanzug gekleidet, auf seinem Bett und hat die Nase in ein Buch gesteckt. Er legt es weg, als Joscelyne die Zimmertüre schließt und sogleich ans Fenster tritt, um das Farbenspiel zu bewundern. Mit einem beiläufigen Ton fragt sie: „Was hast du heute erlebt, als wir im Hallenbad getrennt waren?“
Cory sieht Joscelyne fragend an. Als ob sie seinen Blick spüren könnte, dreht sie sich zu ihm um. Er sagt: „Soll das jetzt unsere Manöverkritik werden?“
Joscelyne legt die Stirn in Falten und zuckt mit den Schultern.
Cory rutscht auf seinem Bett zur Seite und sagt: „Am besten setzt du dich.“
Joscelyne hüpft auf sein Bett, drängt sich an die Wand hinter dem Bett und zieht die Knie an: „Bereit.“
Cory berichtet mit überlegten Worten von dem Lagerfeuer, wo Conscious Gitarre spielte, von dem spannenden Gespräch mit ihm und den Parallelen zu seiner Mitschülerin, die sich das Leben genommen hatte, und dem Moment, in dem das Wasser Conscious verschluckte. Er berichtete, wie das vermeintliche Opfer ihn unter Wasser angrinste, dem Handgemenge, das folgte, und wie er freikam. Er schließt seine Erzählung mit einer Frage ab: „Die Sache mit Conscious sieht nach einer Falle aus. Vielleicht war es ein Mittel des Hallenbads, sich gegen seinen Erhalt zu wehren? Was meinst du?“
Joscelyne starrt eine Weile aus dem Fenster, ehe sie an seiner Frage vorbei antwortet und mit einem ganz anderen Thema beginnt: „Ich hab Eyionne um Hilfe gebeten und sie hat abgelehnt.“
Das ist nicht ganz das, was Cory zu hören erwartet hat. Er hält inne und sagt: „Ich verstehe sowieso nicht, wie Eyionne in dem Ganzen drin hängt.“
„Es ist ihr Mitgefühl“, sagt Joscelyne, ohne darüber nachzudenken.
„Das verstehe ich nicht.“
„Sie hilft dem Hallenbad dabei, schneller zu verfallen. Was glaubst du, warum die Stadt nicht einfach das Ventil umstellt und das Bad trockenlegt?“
„Weil ein Immobilienhai auf das Grundstück spekuliert?“
Joscelyne zeigt den Anflug eines Lächelns: „Das eine schließt das andere nicht aus. Und du weißt selbst, dass sie die Uferbewohner beeinflusst, wie sie es nennt.“
Cory lächelt ebenfalls, nickt zustimmend und wird wieder ernst: „Aber warum hat sie UNS nicht geholfen?“
„Ich vermute, weil sich das Bad in seiner Todessehnsucht total irrational verhält und sie kein Risiko eingehen will. Ich meine, würdest DU dich einem wütenden Stier entgegenstellen?“ Joscelyne überlegt noch einmal laut: „Oder sie konnte wegen der Fessel nicht.“
Joscelyne und Cory sehen sich kurz in die Augen und verstummen. Nach einer Weile kratzt Cory sich am Kinn und sagt: „Es ist faszinierend. Du redest vom Bad, als hätte es eine eigene Persönlichkeit.“
Joscelyne nickt: „Ja, da war eine Wesenheit, die mit dem toten Conscious verbunden war. Ich habe dem Hallenbad erklärt, dass es schlecht wäre, wenn hier Tote gefunden würden, aber es meinte, es sei in seinem Sinne, weil die Todesfälle dazu führen würden, dass das Bad abgerissen werde.“
Cory sucht Joscelynes Hand und drückt sie einmal: „Oh Mann.“
Sie schweigen eine Minute, dann lacht Cory sarkastisch und sagt: „Was das Hallenbad nicht zu wissen scheint, ist, dass in Laubelmont nie etwas abgerissen wird.“
Als Joscelyne schweigt, dreht Cory sich zur Seite und schaut sie direkt an: „Magst du mir nicht der Reihe nach erzählen, was du heute erlebt hast?“
Er beobachtet, wie seine beste Freundin zuerst um Worte ringt, es dann aber bleiben lässt. Er entdeckt ihre Denkfalte auf der Stirn und rechnet schon fast damit, dass Joscelyne zu erzählen beginnt. Dann aber entspannt sich Joscelynes Gesicht und ihr Blick gleitet ins Leere. Er wartet geduldig, spürt aber nach wenigen Atemzügen, dass Joscelynes Präsenz allmählich schwindet. Das Mädchen scheint eingefroren zu sein und Cory sagt mit leiser Stimme: „Ist schon gut. Es ist in Ordnung.“