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Voltumnus Perlen – eine Kurzgeschichte

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Joscelynes Gesicht ist ein offenes Buch für ihre Mitmenschen. In der Schule nicht wirklich gut, aber auch nicht wirklich schlecht eröffnet sich ihr mit Blitz die volle Kontrolle über ihre Wahrnehmung. Also wieso nicht einfach zugreifen? Doch Joscelyne hat die Rechnung ohne die Götter gemacht, die in dieser Stadt gestrandet sind, und so muss Joscelyne erkennen, dass Drogen nicht immer den Konsumenten dienen.

In meinem letzten Blogpost habe ich von meinem Zugang als Autor zu Drogen berichtet und nun ist sie da, die Geschichte rund um Joscelyne und Voltumnus Perlen. Nach Belunes Schwert ist diese Kurzgeschichte die zweite mit Joscelyne als Hauptfigur in Laubelmont. Wie schon erwähnt, teste ich mit diesen Geschichten den Erzählstil für einen Roman – Dein Feedback ist also herzlich willkommen.

Danke an die Testleser und Testleserinnen und Danke an die wunderbare Tanja für das Lektorat. Das Bild stammt von Mariana JM auf Unsplash.

Voltumnus Perlen

Du hast mir gefehlt

Mum? Mum? … bist du da?

Joscelyne liegt in ihrem Bett, dreht den Kopf suchend zur Seite und berührt den goldenen herzförmigen Anhänger, den sie von ihrer Mutter geerbt hat. Das Mädchen schlägt die Decke zur Seite. Kleine Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn. Sie ist blasser als sonst, und auch ihre Augen scheinen tiefer zu liegen, als sie es gewöhnlich tun. Ein Pflaster klebt an ihrem Unterarm, und ihr dunkelbraunes Haar ist zerzaust und wirkt stumpf.

Joscelyne hört in sich hinein. Die typischen Geräusche des Kinder- und Jugendwohnhauses Levana, in dem sie lebt, nimmt sie nicht mehr wahr. Auch die Geräusche der Kleinstadt Laubelmont dringen nicht mehr vom offenen Fenster her zu ihr durch. Die Augen, die ihren Blick eben noch unruhig über die Decke ihres Zimmers haben huschen lassen, kommen zur Ruhe. Sie blicken jetzt nach innen, und das Mädchen spricht mit leiser Stimme in den ansonsten menschenleeren Raum.

Wie schön, dass ich dich jetzt wieder sehen kann. Du hast mir gefehlt.

Eine Träne macht sich auf den Weg über Joscelynes Wange.

Mum, ich hab Scheiße gebaut.

Sie atmet tief durch.

Und natürlich ist auch wieder schräges Zeug passiert … aber nachdem du so lange nichts von mir gehört hast, wirst du dir das sicher schon gedacht haben.

Ich meine, du kennst mich. Ich stelle dauernd irgendetwas an … aber ohne dich war es doppelt so schwer zu ertragen.

Da ich jetzt Ausgangssperre habe, habe ich sehr viel Zeit, mit dir zu reden.

Joscelyne schließt ihre Augen, und eine weitere Träne findet den Weg über ihre Wange.

Ich hätte Julie nicht trauen dürfen – sie wollte mich nur zur Mitwisserin machen, damit sie am Ende nicht alleine für alles geradestehen muss!

Joscelynes Augenlider flattern, und bevor sie weiterspricht, kneift sie ihre Augen zusammen und öffnet sie.

Du kennst Julie Blin bereits: meine Mitbewohnerin. Lange brünette Haare, pummelig, Brille. Meistens hat sie einen Schal um und schreit durch die Gegend – du weißt schon … sagt mir und den anderen ständig, was wir falsch machen. Aber diesmal hat SIE etwas falsch gemacht, und ICH habe sie erwischt … ob das ein Fehler war? Womöglich wäre mir die Erfahrung mit Voltumnus erspart geblieben. Aber der Reihe nach, sonst kennst du dich ja gar nicht mehr aus.

Julie Blins Kuss

Alles hat vor ein paar Monaten angefangen. Julie trat arroganter auf als üblich. Sie warf ihre arschlangen Haare hin und her, kommandierte uns herum und verlangte von jedem, Rechenschaft über sein Verhalten abzulegen. So auch von mir: „Josy, was’ los!?“ Pflichtschuldig erzählte ich von meiner Drei in Französisch, worauf sie mit ihrer Eins zu prahlen begann. Ich meine, ich freute mich für sie, aber in solchen Momenten wollte ich sie am liebsten – ach, du weißt schon.

Aber es hörte nicht auf – mit ihren guten Noten, meine ich … plötzlich war sie unglaublich gut in der Schule! Sie hat nicht wie sonst von jemandem abgeschrieben und gammelte auch nicht wie sonst im Wohnzimmer herum. Nein, plötzlich kam sie heim, schleuderte ihren Rucksack in die Ecke und veranstaltete Tanzpartys mit Asra! … mit Sitz-endlich-mal-still-Asra, verstehst du!?

Joscelynes Augenlider werden schwer. Sie hält kurz inne, atmet tief durch und spricht weiter:

Auf dem Schulweg kann ich mit Julie gut reden, weil das die seltene Zeit ist, in der sie normal mit mir umgeht. Ich habe sie gefragt, was bei ihr plötzlich anders sei, warum sie so gut drauf sei. Und dann hat sie es mir gesagt.

Mum, Julie ist wie ein Etikett im Kragen für mich, das kratzt und das man aber nicht wegschneiden kann, weil es noch mehr kratzen würde. Wenn du mich fragen würdest, ob ich sie mag, würde ich Nein sagen, aber trotzdem ist es gut für mich, dass sie da ist.

… außer halt in dem Moment, als sie mir gestand, dass sie was nimmt und … ich neugierig wurde.

Unter den geschlossenen Lidern beginnen Joscelynes Blicke durch den Raum in ihren Gedanken zu gleiten. Die Stimme des Mädchens wird leiser, und die Betonung der Wörter verwäscht zusehends:

Julie hat mich so komisch angesehen, als sie es mir gestand. … als ergäbe mein Dasein in ihrem Leben plötzlich einen Sinn. Sie hat sich bei mir untergehakt, als wären wir die besten Freundinnen, und wir sind den restlichen Weg zur Schule gemeinsam gegangen.

An meinem ersten Tag mit Blitz – so heißt die Droge – und auch ein paar Tage danach waren wir das wirklich … auf verschrobene Art und Weise. … in derselben Welt, die eigentlich weder ihre noch meine war. Beide hatten wir vergessen, woher wir eigentlich kamen. Wir wussten nur, dass die Welt grauer, leerer und einsamer sein würde, wenn die Wirkung abebbte. In dem Zustand, meist abends, vor dem Schlafengehen, waren wir als Freundinnen füreinander da … nein, stopp. Leidensgenossinnen waren wir. Da gab es niemanden sonst, an den wir uns halten konnten … es gab dich nicht mehr, Mum … und es war mir so lange nicht aufgefallen.

Joscelyne schluchzt und atmet tief durch, ehe sie weiterspricht:

Ich wollte für Julie da sein … ich wollte nützlich für sie sein. Besonders, als wir zum ersten Mal zu Sebastian gingen. Zu Sebastian Leroy von den Spikes. Das ist der Typ vom Skatepark, den alle Jenkins nennen. Julie steht auf ihn, und ich wollte sie nicht blamieren. Weißt du, meine Gedanken waren in der Zeit absolut klar. Aber was Julie da abgezogen hat, habe ich zunächst trotzdem nicht verstanden. Vielleicht bin ich wirklich zu naiv für diese Welt.

Sie denkt kurz nach:

Oder ich war verblendet. In dem Moment konnte ich nicht erkennen, auf welche Art und Weise Voltumnus nach mir griff. Egal. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja!

Julie hat mir die perlenförmige Pille ganz zärtlich auf die Zunge gelegt und mir einen Kuss gegeben.

Vielleicht wollte sie damit ausdrücken, dass er mit seiner Bande und ich mit meinen Freunden ab sofort keine Feinde mehr sind. Weil ich jetzt zu IHR gehöre? Ich weiß es nicht … ich bin dumm …

Wenn Dir das gefällt …

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Böse Jungs und kleine Mädchen

Joscelyne fährt erschrocken aus dem Bett hoch und ruft:

Mum!

Ihre Stimme hallt kurz im Zimmer wider. Joscelyne keucht und schaut sich mit weit aufgerissenen Augen um. Sie reibt sich das Gesicht, beruhigt sich ein wenig und streicht ihre Haare beiseite.

Das Licht im Zimmer ist jetzt dunkler. Sie vermutet, ein paar Stunden geschlafen zu haben. In ihrem Zimmer befindet sich keine Uhr. Telefon und Laptop sind Joscelyne für die nächste Zeit abgenommen worden. Zu Recht, wie sie findet … und dennoch. Für das, was ihr am Ende widerfahren war, konnte sie nichts.

Dann lächelt Joscelyne zum ersten Mal an diesem Tag:

Du bist noch da! Ich kann dich noch sehen!

Sie schluchzt, lacht in das leere Zimmer hinein, drückt sich die Hände auf den Mund, weil sie sich vor ihrer eigenen Lautstärke erschreckt und lässt sich dann entspannt zurück in ihr Bett sinken. Unter Tränen beteuert sie:

Ich werde diese Pillen nie mehr nehmen. Ich will nie mehr ohne dich sein, weißt du?

Eine Weile lächelt sie versonnen vor sich hin und wird dann wieder ernst:

Sebastian ist ein Idiot – er hat den Spitznamen Leroy ja nicht umsonst bekommen. Böse kann ich ihm nicht sein, denn ich verstehe ihn wahrscheinlich besser als er sich selbst. Er hat nur gedealt, weil er gebraucht werden wollte. Er war der Coq vom Pausenhof. Wahrscheinlich bin ich deswegen mit ihm zum Markt gegangen, als er Nachschub brauchte.

Wir haben uns nach meiner Lernstunde direkt am Engelstor getroffen. Hätte ihn jemand von seinen Spikes mit mir zusammen gesehen – oder, BELUNE bewahre, jemand von meinen Leuten, dann wären uns wahrscheinlich nicht nur unbequeme Fragen gestellt worden. Von dort sind wir den Engelsweg hinunter zum Rathausplatz gegangen. Das war das erste Mal, dass ich mehr als zehn Worte mit Sebastian wechselte – was erstaunlich ist. Noch erstaunlicher war aber, dass er wissen wollte, ob Julie und ich zusammen sind! WAS für ein TROTTEL! Doch am erstaunlichsten war die Begegnung mit der Frau, die ich gleich danach am Rathausplatz gesehen hatte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wer sie ist … oder was. Ich weiß nicht, ob du mit dem schrägen Zeug etwas anfangen kannst, Mum? Wie ich auch immer, ich erzähle es dir einfach so, wie ich es erlebt habe, sonst platzt mir der Kopf!

Also, die Frau am Rathausplatz: Sie ist sehr dünn. Aber größer als ich; trägt immer so einen merkwürdigen Faltenrock mit Ledermantel und dazu Stiefeletten. Ich glaube, als sie jung war, war sie sehr hübsch. Jetzt wird sie von ihrem schwarzen Hund durch die Stadt gezogen. Mum, glaubst du, dass Göttinnen sterben können? Und was würde mit der Welt passieren, wenn sie es täten? EARICURA sieht jedenfalls so aus, als wäre es bei ihr bald so weit. Wenn sie tatsächlich sterben könnten, würde das mehr von dem schrägen Zeug erklären, das später noch geschah. Aber der Reihe nach.

Joscelyne lacht leise, bevor sie den nächsten Satz ausspricht:

Sebastian und ich gingen vom Rathausplatz aus einen Block weiter zum Markt, um Drogen zu kaufen.

Joscelyne kichert.

Oh Mann, wie das klingt.

Doch dann seufzt sie:

Aber so war es. Dort lernte ich Snake kennen. Eigentlich noch nicht, weil nur Sebastian mit ihm sprach und ich ihnen aus der Entfernung zusah.

Joscelynes Erzählung gerät ins Stocken, und das Mädchen scheint einzufrieren. Ihr Atem wird flach, und ihre Augen starren über die mit zerquetschten Stechmücken übersäte Zimmerdecke. Anhand ihrer Arme wird sichtbar, dass ihr ganzer Körper angespannt ist.

Leise, und ohne das Joscelyne etwas mitbekommt, öffnet sich die Zimmertür einen Spalt breit. Ein dunkles Auge wird im Türspalt sichtbar. Das Klack der sich schließenden Zimmertür holt das Mädchen wieder aus ihrer Starre.

Es war nicht schwer, das Päckchen mit Pillen ins Zimmer zu schmuggeln, weil niemand einen Verdacht hegte. Später war das aber anders. Vielleicht hatte Julie mit jemandem darüber gesprochen? Oder den Leuten war es aufgefallen? Eines Abends kam ich heim. Marco schloss mir auf, und an seinem Blick erkannte ich sofort, dass etwas faul war.

Marco ist nicht groß, kann aber auf seinen breiten Schultern ein ganzes Bettgestell alleine tragen. Er läuft in Retro-Skater-Klamotten herum, obwohl er alt ist, und spielt voll gut Gitarre. Mich erinnert er an einen Teddybären, und er kann mindestens so mitfühlend dreinblicken wie einer.

Er sagte, ich soll zuerst mit ihm und Dara mitkommen. Mum, Scheiße! Mit Dara! Mir rutschte das Herz in die Hose, aber ich war so eine Bitch gewesen, dass ich mir nichts hatte anmerken lassen. Blitz ist brutal, es stärkt deinen Fokus, und du hast dadurch deine Wahrnehmung komplett unter Kontrolle. Und dann stand ich da, im Konferenzraum, im Halbdunklen und beobachtete die beiden Betreuer, wie sie zuerst Einweghandschuhe anzogen und dann den Inhalt meines Rucksacks auf dem Konferenztisch ausbreiteten. In mir war alles verkrampft, aber ich scherzte, dass jetzt wenigstens der lange vermisste Stift wieder aufgetaucht war. Mein Pokerface hielt auch noch, als Dara direkt vor mir stand und mich bat, mich abtasten zu dürfen. Seit du tot bist und seit ich hier wohne, hat sie alles von mir erfahren. Sogar das, was ich dir gerade erzähle. Sie kennt mich so gut wie niemand der anderen, die hier arbeiten. Sie bat mich, meine Taschen auszuleeren (ich trug jedoch einen Rock und Leggins) und meine Schuhe auszuziehen. Marco erlaubte ich es, mein Telefon zu zerlegen. Sie fanden nichts, weil die eine Pille für den Notfall im Fach für die Ersatzpatrone meines Füllers steckte. Die übrigen hatte Julie. Später versteckte ich meinen Vorrat unter dem äußeren Fensterbrett, wo eine ehemalige Bewohnerin ein Stück Isolierung herausgebrochen und ein Fach geschaffen hat – davon weiß niemand bisher. Die Seite an mir gefällt mir nicht, aber ich bin froh, dass ich sie habe. Dara und die anderen so hinters Licht geführt zu haben, tut mir selber weh, und ich schäme mich dafür. Ich glaube, sie werden mir nie wieder vertrauen … auch wenn sie das Gegenteil behaupten.

Joscelyne wischt sich eine Träne weg und blickt zum Fenster, wo gerade die blaue Stunde beginnt.

Julie war an dem Abend nicht mehr im Heim. Die anderen sagten, sie wäre nach Hause gefahren. Weil das unter der Woche passierte und neben Marco und Ines auch noch Dara im Dienst war, verstand ich augenblicklich, dass Julie aufgeflogen war. Und ich hatte recht. Später erfuhr ich, dass Julie mit Ines bei der Polizei war – es waren doch ein paar mehr Pillen, die wir beide mit Sebastian gekauft hatten. Deswegen – und auch wegen des Verdachts auf Drogenbesitz in meinem Fall – musste Dara Überstunden schieben. In dem Moment dachte ich aber nur an mich – wie es unter dem Einfluss von Blitz eben ist: Was wussten die Betreuerinnen, was hatte Julie ihnen erzählt, was würden die Leute in der Schule sagen? … und wo bekam ich einen neuen Vorrat an Blitzen her?

… aber das war nicht der Grund, warum ich Ausgangssperre habe.

So auf das Fenster, mit dem dahinter befindlichen Geheimfach blickend, richtet Joscelyne den Oberkörper auf. Ächzend zieht sie die Beine unter der Bettdecke hervor und stellt sie auf den Boden. Als ihr schwindlig wird, hält sie sich den Kopf und kneift die Augen zusammen: Fuck. Sie schiebt sich zurück ins Bett und lehnt den Rücken an die Mauer dahinter:

Sebastian war an dem Tag ebenfalls nicht in der Schule. Natürlich bat mich die Vertrauenslehrerin zu einem Gespräch, aber ich spielte ihr ein Theaterstück vor und machte mich nach dem Unterricht auf zum Markt. Ohne Geld. Ich fühlte mich unbesiegbar.

Joscelyne blickt zuerst an sich herunter. Ihr Pyjama, der ihr vorher gepasst hatte, ist ihr zwei Nummern zu groß geworden. Außerdem müffelt sie, wie sie eben bemerkt, und stellt fest, dass sie zwei Tage nicht geduscht hat.

Snake war auf dem Markt unübersehbar. Sein morbider Charme war auf dem halben Platz zu spüren. Wie es sich für finstere Ganoven gehört, stand er in einer schattigen Ecke. Mit seinem schmalen Gesicht, seinem schwarzen Ledermantel und seinen nach hinten gegelten Haaren. Er hat das Charisma einer Königskobra. Er faszinierte mich von dem Moment an, als ich ihn mit Sebastian hatte sprechen sehen. Dennoch ging ich nicht gleich auf ihn zu, sondern beobachtete ihn eine Weile aus sicherer Entfernung.

Blitz sorgt dafür, dass du ein größeres Blickfeld hast – auch im metaphorischen Sinn. So tauchte am Rand meiner Wahrnehmung Martine auf. Zu dem Zeitpunkt sah ich sie zum ersten Mal, und ihre Erscheinung lenkte mich ab … vielleicht ahnte ich schon, dass sie mich retten würde.

Sie stieg an der Straße, die am Markt vorbei führt, aus einem Taxi. In dem Moment drehten sich wahrscheinlich alle Männer am Platz nach ihr um. Vielleicht war das in Wahrheit der einzige Grund, warum sie mir aufgefallen war. Oder wegen dem roten, ihrer kurvigen Figur schmeichelnden Kleid.

Als sie mit wehenden roten Haaren und in kniehohen Lederstiefeln hinter der Markthalle verschwand und ich mich wieder meiner Beobachtung widmen wollte, war Snake weg und VOLTUMNUS da. Es war abgefahren, ich sah es glasklar. Ich sah, wie der Raum um den Körper, der normalerweise Snake gehört, sich bog und seine Gestalt mit einem harten schwarzen Strich in der Realität umrissen wurde. Mum, Götter sind nichts Alltägliches, aber in Laubelmont schon – zumindest in dem Laubelmont, in dem ich lebe.

Ich entschloss mich, ein wenig näher zu gehen, um dieses Wesen genauer betrachten zu können. Ach, Joscelyne seufzt, in Wahrheit rechnete ich mir bei einer Gottheit bessere Chancen aus, an Drogen zu kommen als bei einem fiesen Dealer.

Snake rollt immer wieder mit den Schultern, um seinen Mantel zurechtzurücken. Voltumnus tut das nicht. Dafür steht dieser ein wenig breitbeiniger da als der Besitzer seines Leihkörpers. Ich hatte zuvor schon öfter schräge Menschen gesehen, die in ihrer irdischen Existenz ein nicht stoffliches Lebewesen zu Gast haben. Aber nirgends ist diese Fügung so passend wie bei Voltumnus und Snake. Snake trägt eine Narbe auf der linken Wange (wie könnte es anders sein) und hat dunkle braune Augen, die ihm eine Düsternis verleihen, die sich auch in seiner Stimme manifestiert. Der Gott bringt diese Augen zum Leuchten, und dieses Leuchten ist zwar auch nicht fröhlich, aber zumindest erhaben, und es überstrahlt die Narbe und die gebrochene Nase in diesem Gesicht.

Und dann trafen sich unsere Blicke. Augenblicklich breitete sich eine Hitze, ausgehend von meinem Bauch, in meinem Körper aus, sodass ich mich in meiner Haut ein wenig unwohl fühlte und wohl auch ordentlich rot wurde. Ich baute mich vor ihm auf und bat ihn eiskalt um einen Kredit. Er wusste sofort, dass ich Blitz BRAUCHTE, um auf diesem Level weiter zu funktionieren. Und er überließ mir gern ein kleines Päckchen mit Pillen. Damals missverstand ich diese Geste. Ich glaubte, ihm überlegen zu sein … Joscelyne kichert. SELBSTVERSTÄNDLICH schenkt mir ein Dealer-Gott-Hybrid eine Gratisprobe von seinem besten Stoff. Dass einem nichts auf dem Planeten geschenkt wird, habe ich jetzt begriffen.

Ich weiß nicht mehr, was ich Voltumnus an dem Tag erzählte, oder was er mir antwortete, aber ich hing an seinen strahlenden dunklen Augen und seinen schmalen Lippen … und dann war Martine da. Aus dem Nichts, dafür mit voller Wucht. Mitsamt ihrer einnehmenden Präsenz, ihren kupferfarbenen Haaren und den roten Klamotten. Mithilfe der tiefsten Ausprägung des Laubelmonter Dialekts platzte sie zwischen Voltumnus und mich:

„HE, SNAKE! Bist schon wieder dabei kleine Kinder zu verführen?!“

Das zerstörte den göttlichen Moment nachhaltig, und ich war wieder klar im Kopf. Snake zog sich zurück, und ich blickte in Martines runde grüne Augen. Sie lachte mir ins Gesicht und nahm mich an der Hand. Sie redete ohne Unterlass und führte mich quer über den Markt: Snake sei ein großer böser Junge und kleine Mädchen (ja, sie benutzte genau dieses Wort) stünden auf ebenjene böse Jungs. Ich weiß nicht mehr exakt, was sie sagte – das Gesetz der Anziehung kam jedoch definitiv darin vor. Sie schloss mit der dringenden Empfehlung, den Rat einer Frau, die sich besonders gut mit Männern auskennt, zu befolgen. Zum Abschied überreichte sie mir ihre Visitenkarte.

Die Augenbraue

Joscelyne versucht erneut aufzustehen. Sie stellt wieder die nackten Füße auf den Boden und rutscht an die Bettkante. Als sie sich hochdrückt, verlässt sie auf dem halben Weg die Kraft und sie plumpst zurück ins Bett. Kurz läuft ihr Gesicht rot an, und sie würgt.

Falls du mich fragst, Mum, spricht sie in Gedanken, ist das hier die kurze gute Zeit nicht wert gewesen, und legt sich wieder hin. Wann vergeht endlich diese verdammte Übelkeit?

Sie starrt eine Weile an die Decke, dann legt sie ihren Kopf ein wenig höher und erzählt weiter:

Eine Woche nach dem Treffen mit Martine und Voltumnus tauchte Julie wieder im Heim auf. Sie war stinksauer und ihr erster Weg führte in mein Zimmer. Augenblicklich sollte ich ihr einen Blitz geben und ich lachte lauthals: „Du willst WAS von mir?“ Es gelang mir für eine kurze Zeit, sie zu verunsichern. Aber Julie ist aalglatt und stieg in mein Spiel mit ein. Theaterreif erzählte sie mir, wie sehr sie gelitten habe und wie schwer es gewesen war, mich nicht zu verraten. Dass ich ihre Freundin sei und sie die ganze Schuld auf sich geladen habe. Blitz hin oder her, ich glaubte ihr. Ihr gelang ohne Blitz, was mir maximal mit Blitz gelang. In Wirklichkeit hatte ich nie die Chance gehabt, MEIN EIGENES Spiel zu gewinnen. Also gab ich ihr vermeintlich freiwillig jeden Tag eine von meinen Perlen ab. Im Vertrauen, einerseits nicht verraten zu werden und andererseits einen neuen Vorrat von ihr zu bekommen, sobald meiner zur Neige ging.

Sebastian blieb der Schule ein wenig länger fern. Und als er wieder da war, wurde er von seinen Eltern bis ins Schulgebäude begleitet und von dort auch wieder abgeholt. Julie prahlte ihm gegenüber mit meinem Vorrat (den sie als ihren darstellte, die blöde Kuh!) und bot ihm einen Blitz an. Auch wenn ich das nicht laut sagen dürfte: Sebastian ist eigentlich ganz cool. Anstelle eines „Nein danke“ boxte er Julie einfach in den Magen, und sie sackte zu Boden, ha!

Von da an wurde auch mir klar, dass Julie gelogen und die Schuld nicht auf sich genommen hatte. Sollten wir noch einmal erwischt werden, würde sie mich als Nächstes hochgehen lassen. Ich konnte diese Katastrophe noch drei Tage länger aufhalten, dann war mein Päckchen aufgebraucht, und für Julie blieb nichts mehr übrig.

Joscelyne seufzt: Es lief genauso ab wie das letzte Mal, bloß mit anderen Vorzeichen. Mein Rucksack, meine Schuhe, mein Handy, das Abtasten, abschließend die Taschen leeren. Aber dann sah ich aus den Augenwinkeln, wie Marco meine Füllfeder zerlegte und meine letzte Pille auf seiner Handfläche landete. Verdammt. Sein Teddybär-Betreuerblick wanderte von der Pille langsam aufwärts in mein Gesicht. Dara gab ihren obligaten Zischlaut von sich, der übersetzt so viel wie „verdammte Scheiße!“ bedeutet – bloß auf Persisch, ihrer Muttersprache. Auf den Marco-Teddybärblick folgte ohne Umwege die Zornesfalte auf seiner Stirn. Ich wusste, dass ich am Arsch war. Dara bugsierte mich ins Dienstauto, Ines übernahm ihre Schicht und Julie winkte mir zum Abschied – ich wusste nicht, was das bedeuten sollte. Aber mir wurde Folgendes klar: Dieser Fund bestätigte Julies Version der Geschichte. Sie hatte Sebastian an meiner Stelle verpfiffen und bei dem ersten Tablettenfund behauptet, es seien meine Tabletten gewesen. Da hatte sie jedoch nichts vom Versteck in der Füllfeder gewusst. Jetzt wurde ihre Version rückwirkend bestätigt, und sie konnte das unschuldige Kätzchen spielen.

Dara ist fast sechzig Jahre alt und Leiterin der Levana. Sie hat ein ovales Gesicht, dunkelbraunste Augen, und sieht mit ihren Schlupflidern immer ein wenig verkniffen drein. Als sie auf der Fahrerinnenseite zu mir ins Dienstauto stieg, stellte sie mir eine simple Frage: „Joscelyne, warum nimmst du Drogen?“

Es sind diese schlichten und naheliegenden Fragen, die mir bei ihr so gefallen. Im Gegensatz dazu stand ihre sorgenvolle Miene. Ihre Gefühle waren echt und authentisch. In dem Moment hasste ich sie dafür – nicht weil sie mir von Rechts wegen Probleme bereiten MUSSTE, sondern weil ich in dem Augenblick durch den Verrat von Julie verletzt war. Und ich wollte, dass Dara mit mir litt, weil es für mich dann leichter zu ertragen gewesen wäre. Und diesem Hass machte ich Luft:

„Ich brauche dein verdammtes Mitleid nicht!“, erwiderte ich, was nicht stimmte.

Und sie blieb einfach ruhig. Wie immer. … nur ICH nicht! Obwohl Blitz mich ermahnte, meinen Kopf zu benutzen und das Theater weiterzuführen. Ich hatte aber keine Lust dazu.

„Joscelyne, das ist eine einfache Frage.“

„Ist doch scheißegal! Weils geil ist!“

„Wenn du Party willst, dann nimmst du die falschen Substanzen. Blitz ist eine Lernhilfe.“

Siehst du Mama, warum Dara so verdammt cool ist?

Ich brüllte sie an: „Wer bist du? Meine verdammte Drogenberaterin?“

Dann war da ihre berüchtigte Augenbraue. An dem Abend zog sie die linke hoch: „Du weißt genau, was dich die nächsten Tage erwartet.“

Das wusste ich von Julie und den Erzählungen der anderen in der Levana: Drogenberatung im Haus der Vereine. Rechtsberatung im selben Haus, eine Tür weiter. Bewährungshilfe im Bahnhofsviertel, Vertrauenslehrerin in der Schule, unangekündigte Drogentests in der Levana. Unangenehm.

Daras Braue verfehlte ihre Wirkung bei mir nie. Aber diesmal berührte sie mich nicht an der Schulter, wie sie es sonst manchmal tat: „Ich kenne dich nicht mehr.“

Sie hatte sich distanziert. Das tat mir weh, und ich starrte demonstrativ aus dem Beifahrerinnenfenster: „Ich werde dir nicht zur Last fallen. Leck mich einfach am Arsch.“

Dara startete den Motor, und wir fuhren von der Metropole hinunter ins Bahnhofsviertel, wo das Polizeigebäude steht.

Aber der neuerliche Fund ist nicht der Grund, warum ich jetzt Ausgangssperre habe.

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Pass auf dich auf

Die Tür zu Joscelynes Zimmer öffnet sich erneut, und Dara klopft vorsichtig, während sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen lässt: „Klopf, klopf. Joscelyne, bist du jetzt wach?“

Das Mädchen wirft ihrer Betreuerin einen genervten Blick zu: „Was gibts?“

Dara steht immer noch in der Tür: „Kann ich reinkommen?“

„Ich habe gerade an dich gedacht.“

Dara lächelt. „Willst du mich immer noch ermorden?“ Sie sucht spaßeshalber ihren eigenen Hals nach imaginären Würgemalen ab. Dann fragt sie: „Hast du heute schon etwas getrunken?“

Die Blicke beider Frauen fallen auf einen vollständig gefüllten Glaskrug und ein unbenutztes Glas. Als Dara schweigt, erklärt Joscelyne, während sie ihre Finger mustert: „Ich bin nur so extrem müde.“

„Soll ich dir ein Glas bringen?“

Joscelyne nuschelt: „Ja, bitte. … und den Krug.“

Dara schwebt durch das Zimmer, hockt sich neben das Bett und schenkt ihr ein Glas Wasser ein: „Es wird bald besser werden.“

Joscelyne mustert die Wand neben sich: „Ich weiß.“

Dara lässt ihren Blick über Joscelyne gleiten, sagt eine Weile nichts, und als das Mädchen keine Anstalten macht, ihren Blick zu erwidern, steht sie mit einem leisen Stöhnen auf und bewegt sich langsam zur Tür: „Ich schaue später noch einmal nach dir, okay?“

Joscelyne nickt. Als die Tür wieder geschlossen ist, betrachtet sie das Glas. Dara hat es genau bis zur Markierung vollgefüllt. Vorsichtig greift das Mädchen danach, trinkt einen Schluck und behält das Glas am Schoß in den Händen:

„Weißt du, Mum? Manchmal hasse ich mich selber dafür.“

Joscelyne denkt eine Weile nach, wobei sich ihre Stirn in Falten legt. Schließlich stellt sie das Glas zurück, rutscht im Bett nach unten und dreht sich zur Seite. Von dieser Perspektive aus betrachtet sie das sich brechende Abendlicht im Wasserglas und setzt ihre Erzählung mit halblauter Stimme fort:

Schon am nächsten Tag bin ich nachmittags abgehauen. Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb, bis es zwanzig Uhr war. Ab der Uhrzeit würde die Polizei nach mir Ausschau halten, weil Ines mich – wie es die Betreuer nennen – als abgängig gemeldet hatte (Vielleicht hätte ich Ines deswegen nicht eine Bitch nennen sollen).

Ich radelte von der Metropole über die Burg hinunter zum Markt, was über die Fußwege wegen den Stufen überhaupt keinen Spaß machte. Obendrein glänzte Snake mit Abwesenheit. In meiner Verzweiflung schwang ich mich wieder auf das Fahrrad und fuhr den ganzen Weg zurück.

Ekelig durchgeschwitzt von der Anstrengung fand ich Sebastian gleich bei uns in der Metropole im Skatepark. Als ihn die anderen von seiner Bande auf mich aufmerksam gemacht hatten, rollte er mir sofort auf seinem Board entgegen. Die blöden Kommentare seiner Kumpels überholten ihn im Flug … und ich war verlegen deswegen. Ohne Blitz gelang es mir nicht, Theater zu spielen.

„Du schaust scheiße aus“, stellte Sebastian treffend fest.

Ich stieg vom Fahrrad ab: „Du hast es hinter dir?“

„Fuck, ja. Das Zeug hat mir sicher drei Jahre von meiner Lebenszeit gestohlen.“

„Dass du keins mehr willst, weiß ich … Snake. Er ist nicht am Markt.“

Er kickte sein Board und nahm es in die Hände: „Dann ergreif’ die Chance, und lass es bleiben. Ich verstehe sowieso nicht, warum du das brauchst – du warst nie schlecht in der Schule.“

„Aber auch nie gut.“ Dass ich Blitz benötigte, um meine Gefühle vor der Welt zu verbergen, musste er nicht wissen.

Er durchschaute mich aber: „Ich verstehe schon.“

Noch bevor ich mich rechtfertigen konnte, kam er mir zuvor: „Er ist manchmal unten an der alten Spedition. Im Haus.“

„Das ist der Lost Place am Frachtenbahnhof, neben der Gärtnerei.“ Es war eine Feststellung.

„Genau, mit dem grünen Dach.“

Ich überlegte kurz, aber er übernahm gleich wieder das Wort: „Es ist nicht schön dort. Vielleicht solltest du nicht …“

„Was?“, blaffte ich ihn an. „Willst du mich etwa begleiten?“

Er nahm das Board hinter den Rücken zwischen seine Schulterblätter und spannte die Muskeln an, was aber – dem Skaterhemd geschuldet – keinen Eindruck auf mich machte: „Keine Chance. Kannst froh sein, wenn ich dir nicht die Polizei hinterherschicke.“

Und mit einem „Pass auf dich auf“, schwang er sich wieder auf sein Board und ließ mich stehen.

Die alte Spedition

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, wirkt das Wasser in dem Glas grau und leer: „Wie nach dem Blitz“, denkt Joscelyne und stützt sich zum Trinken auf. Sie stellt fest, dass ihr nicht mehr so schwindlig ist und der Würgereiz nachgelassen hat.

Wenn man über Neustadt fährt und dann den Weg über die Felder zum Hippodrom nimmt, kann man sich zwischen den beiden Sportzentren ungesehen der alten Spedition nähern. Das weiß die Polizei zwar und würde, um mich einzukassieren, im Neustädter Kreisverkehr Position beziehen, doch reichte deren Interesse wohl nicht aus, um das tatsächlich zu tun. Ich erreichte um sieben Uhr, vollkommen unbehelligt, die alte Spedition mit dem grünen Dach. Einen von rund hundert Lost Places in Laubelmont. Weißt du, Mum, eigentlich ist ganz Laubelmont ein Lost Place, aber das hatte sich unter den Urbexern noch nicht herumgesprochen.

Die alte Spedition ist geformt wie ein L. Im Hinterhof gibt es eine überdachte Laderampe, auf der eine Parkbank steht, die bestimmt irgendjemandem abgeht. Der lange Teil des L’s ist eine rostige Halle mit etlichen Schiebetüren, die alle verschieden kaputt sind. Den kurzen Teil des L’s hat man erweitert – vermutlich kurz bevor die Firma pleiteging. In den 60ern. Der Zubau – also der kurze Teil des L’s – wird von den Einheimischen als „das Haus“ bezeichnet. Cory, mein bester Freund und einziger Lieblingsnerd, kennt alle Geschichten der Stadt in- und auswendig. Die Punks hatten es einmal besetzt und „hergerichtet“. Seit die damit anfingen, ihr Bier mit der Bankomatkarte zu bezahlen, nutzten verschiedene Gruppen aus der Stadt dieses Chaos. Seit Laubelmont, zusätzlich zu seinen anderen Problemen, auch ein Problem mit suchtkranken Menschen bekam, wurde die alte Spedition durch die sogenannten „Konsumenten“ unbewohnbar gemacht. Mit Cory und Fleur, meiner Flügelfrau, waren wir erst einmal hier gewesen. Ich erinnerte mich bestens an den Eingang ins Gebäude. Der ist übrigens weder versteckt noch versperrt: Sozialarbeiter, Polizei und Sanitäter gehen hier so oft ein und aus, dass der Weg durch das Gelände nicht mehr so bewachsen ist wie der Rest des Grundstücks.

Zuerst durchquert man den Altbau. Das Bemerkenswerteste dort ist die punkistische Neuinterpretation des alten Firmenlogos mit den Einschusslöchern drin. Will man in die oberen drei Stockwerke des Hauses, nimmt man die schöne geschwungene Treppe des Altbaus. Ich ignorierte die Geräusche aus den oberen Stockwerken. Wäre ich bereits hier unten jemanden begegnet, hätte ich am Absatz kehrtgemacht. Die Graffitis versprachen den Weg zur Erleuchtung, also folgte ich deren Rat und stieg in das dritte und letzte Stockwerk hinauf, ohne mich in den unteren Ebenen umzusehen. Die „Chefetage“, wie ich sie nenne, überragt den Altbau um ein Stockwerk und besteht aus vier Räumen. Hier, im Empfangsbereich, empfingen mich, anstelle einer Vorzimmerdame, Uringeruch, aufgehäufte Stoffdecken, leere Bierkisten und Kerzenreste. Links mündet ein Türportal in einen vollkommen dunklen Raum. Der Raum rechts wurde durch abendliche Lichtstreifen erhellt, die durch Spalten eines vernagelten Fensters sickerten. Mit klopfendem Herzen durchquerte ich den Empfangsbereich und stand im vierten Zimmer. Das war der Moment, wo das schräge Zeug so richtig losging.

Das Zimmer weist drei große intakte Fenster in drei verschiedene Himmelsrichtungen auf. Metallleisten, in regelmäßigen Abständen an den Wänden, lassen darauf schließen, dass dieser Raum einst eine Vertäfelung besessen hatte – die vermutlich schon damals von den Punks in Raumwärme umgewandelt worden war. Als ich dort stand, war der Raum kalt. Bettgestelle standen an den Wänden. Ein Stuhl in der Mitte des Raums stützte einen Müllberg, der seinerseits einen Schatten auf eine Gestalt links von mir warf. Dort, vom Abendlicht beschienen, lag jemand in einem Bett und flüsterte mit dieser Gestalt. Bei der Gestalt handelte es sich um Snake. Er saß an der Bettkante und antwortete mit einfühlsamem Wispern. Auch die übrigen Bettgestelle waren belegt. Hier und da ein Husten. Ein schwarzer Hund erschreckte mich, als er durch die Tür hinter mir trippelte und auf das Bett neben Snake sprang. Nach Snake hatte ich gesucht, aber mehr als bloß ihn gefunden. Ich wollte dringend wieder gehen.

Ein Akt der Liebe in der Zeit der Hoffnungslosigkeit

Joscelyne dreht sich auf den Bauch und vergräbt ihr Gesicht im Polster. Nach wenigen Atemzügen stemmt sie sich im Bett hoch, knufft das Kissen zurecht und legt sich seitlich wieder hin. Nun zur Wand schauend, erzählt sie weiter:

Die Frau in Faltenrock und Stiefeletten lag in dem Bett, auf dessen Kante Snake saß. Als ich Vermutungen darüber anstellte, was die beiden miteinander zu tun hätten, schälte sich die Anomalie des gekrümmten Raumes aus den Schatten der Chefetage. Meine Wahrnehmung offenbarte mir auf diesem Weg, dass ich in Wirklichkeit drei göttliche Wesen vor mir hatte. Da saßen nicht Snake und die stadtbekannte Obdachlose mit dem Faltenrock. Nicht einmal bei dem schwarzen Hund, der jetzt bei ihnen lag, handelte es sich um einen gewöhnlichen schwarzen Hund – ist doch schräg, oder? Das Tier wirkte verzweifelt und leckte an ihren Fingern. Er fand keinen Weg, seiner Herrin zu helfen, steckte in einer ausweglosen Situation, und das verstieß gegen seinen Daseinszweck. Denn dieser Hund ist Earicuras Führer und Begleiter und hört auf den Namen OGMIOS.

Earicura lag im Sterben, und Voltumnus war mit einem Geschenk zu ihr gekommen. Mit etwas, das ihr Linderung versprach. Eine Möglichkeit, ihren unvermeidbaren Tod aufzuschieben. Ihre einzige Möglichkeit, in dieser Existenz zu verweilen, in der sie seit … ja, seit wann eigentlich? … gefangen war und noch immer ist.

Snakes leiderfahrenen Gesichtszüge plötzlich warm und liebevoll zu sehen, berührte mich. Mitten in der Trostlosigkeit des modernen Menschenzeitalters erblickte ich zwei Liebende. Wie konnte die Welt so grausam zu ihnen sein? Wie konnte es in all dem Elend so viel Wärme geben?

Voltumnus stand inmitten seiner Pflichten. Als Gottheit wurde er gebraucht, damit die Zeit durch den Raum unserer Existenzebene fließen kann. Doch hier saß er nun, im Körper des ländlichen Kleinkriminellen namens Snake und erschuf eine Ausnahme. Er hatte diese menschliche Erweiterung seines Bewusstseins aus einem besonderen Grund gewählt – Voltumnus tat etwas VERBOTENES.

Aus den Tiefen seines Mantels zog er jetzt eine schwarze Sanduhr, die bereits abgelaufen war, und stellte sie neben das Bettgestell – es handelte sich dabei um Earicuras Uhr. Ohne den Blick von ihren müden Augen abzuwenden, zog er als Nächstes eine Perlenkette aus der anderen Tasche. Die Göttin gab ein erschrockenes Stöhnen von sich, als sie das Schimmern der kleinen Kugeln erblickte. Im selben Moment spürte ich einen Stich in meinem Magen. Im ersten Moment dachte ich, ich sei einfach nur erschrocken. Dann bemerkte ich, dass ich meinen Blick nicht von dem Kleinod lassen konnte. Ich verfolgte es auf seinem Weg in Earicuras Hände und sah fasziniert zu, wie sie an der ersten Perle zu lutschen begann. Die Perle zerfloss wie Traubenzucker auf ihren Lippen, ihre Wangen röteten sich und ihre Augen klarten auf. Als sie die zweite Perle zwischen die Lippen nahm, brachte ich das Ziehen in meinem Magen mit Earicuras Süßigkeiten in Verbindung. Sahen ihre Haare jetzt nicht voller aus? Und bei ihrer dritten Perle spürte ich eine Hand an meiner Schulter.

„Gut, dass du gekommen bist.“

Es war VOLTUMNUS. Und er schlug mich erneut mit seinen düster leuchtenden Augen in den Bann: „Ich dachte mir schon, dass ich dich wieder sehen werde. Du kannst mir bei einer Sache helfen.“

Ich war erfreut: „Ich kann dir helfen? Das ist gut, denn ich schulde dir noch etwas.“ Ich wusste aber nicht, warum ich darüber erfreut war.

Das Stechen und Ziehen in meinem Magen verstärkte sich, als er sagte: „Ich hab hier etwas Neues, aber ich brauche jemanden, der es ausprobiert.“

Ich wollte ihn nicht enttäuschen: „Klar probiere ich es aus.“ Aber ich wollte auch nicht sterben.

Er nahm mein Gesicht in die Hände und sah mich mit Erleichterung und Freude an. Eine Welle der Dankbarkeit und Freude schwappte durch meinen Körper, doch meine Magenschmerzen erinnerten mich an die Gefahr, in der ich schwebte. Um den göttlichen Bann in den Griff zu kriegen, schloss ich die Augen.

Ich weiß nicht mehr mit Sicherheit, an welcher Stelle genau mir die ganzen Zusammenhänge klar wurden. Vielleicht waren es die Schmerzen in meinem Bauch? Vielleicht die Tatsache, dass Earicura plötzlich zehn Jahre jünger wirkte? Aber Mum, Voltumnus Plan war sowohl superfies wie auch genial: Denn bei Blitz handelt es sich um mehr als nur eine simple Droge, die von Snake in der Stadt verteilt wurde. Snake ist nur ein Werkzeug. Blitz besitzt zusätzlich eine magische Komponente, die Voltumnus erschaffen hat, um die Lebenszeit seiner Geliebten zu verlängern. Die Größe und Form der Pillen gleicht den Perlen auf Earicuras Kette; und die Farbe der Tabletten gleicht dem Sand in Voltumnus Sanduhren … diese Fakten halfen mir beim Verstehen des ganzen schrägen Zeugs. Jede dieser kleinen Helferlein bestand aus einem kleinen Kosmos von Zeit und Raum. Sie waren durch meinen Metabolismus gewandert, hatten meine Psyche verändert und kehrten zu der Perlenkette zurück. Bloß dass es nicht MEINE kleinen Helferlein gewesen waren, sondern SEINE. Sie waren DIEBE! Sie hatten meine Lebenszeit gestohlen, und zwar im Auftrag des Herren der Zeit, der er ist.

Aber wofür?

Ich stand noch immer unter Voltumnus Bann. Nun war in seinen Fingern eine große Perle aufgetaucht, und ich staunte verzweifelt, als ich meine Zunge danach ausstreckte. „Das ist die Neue, kleine Joscelyne.“

Gleich würde ich erfahren, wofür sie gut war.

Oder auch nicht, denn vom Bettgestell her erklang die raue Stimme Earicuras: „Sie nicht.“

Ogmios hatte seinen Hundekopf erhoben.

Earicuras Blick ruhte auf mir, während sie eine Galaxie verschlang. Die Lebenszeit klebte noch an ihren Lippen, während ich spürte, wie mein siebzigster Geburtstag aus der Realität dieser Welt verschwand. Und mein neunundsechzigster und mein achtundsechzigster ebenfalls – wie du dir denken kannst, Mum, hatte ich dieses unwissentliche Geschenk bereits vor einigen Tagen gemacht, als ich den dazugehörigen Blitz unter meine Zunge gelegt hatte.

… wofür noch einmal genau?

Ein Schaudern lief über meinen Rücken, und ich fragte mich, was geschehen würde, läge erst diese neuartige Pille auf meiner Zunge.

Ich wollte mich dagegen wehren, aber der Herr der Zeit hielt mein Gesicht in seinen warmen und weichen Händen. Diese magnetische Kraft wollte nicht nachlassen, auch wenn ich mich anspannte und meinen Geist dagegenstemmte. Nach Halt suchend, schaute ich mich um: Dazu brauchte ich weder die Augen zu öffnen, noch musste ich einen anderen Muskel bewegen. Ich habe gelernt, dass ich größer bin als mein Körper. Ich kenne das Land und seine Gewässer. Ich kenne den Berg, auf dem und um den Laubelmont liegt. Ich kenne seine Bäume und seine Quellen, und daran konnte ich mich jetzt festhalten. Nicht mit Händen und Füßen, aber mit meinem Geist. Die Stadt würde mir helfen!

In der geistigen Welt existiert Zeit nicht. Weder dort, wo meine Lebenskraft dafür gesorgt hätte, dass ich alle Schicksalsschläge bis zu meinem siebzigsten Geburtstag überlebt hätte, noch auf dem Weg, den ich zurücklegen müsste, um von der alten Spedition zu meinem Halt gebenden Lieblingsbaum zu gelangen.

Für Voltumnus ist die Lebenskraft ein Bach und er, als Herr der Zeit, ist Müller und Mühle in einem. Er mahlt unsere kohlenstoffbasierten Leben zu Mehl und füllt sie in seine Sanduhren. Uns alle hat er in seiner Mühle auf Regalen stehen, und wenn es an der Zeit ist, wendet er sie, und wir verlassen diese Welt. Ohne seinen Dienst und seine Mühle stünde die Zeit still, und das Universum würde aufhören zu gedeihen. Warum er mithilfe dieser verzauberten Drogen Earicuras Lebenszeit verlängert, kann ich nachvollziehen. Was ich nicht verstehe, ist, warum diese Sanduhr überhaupt gewendet werden musste? Ich muss mehr über diese Göttin erfahren … aber ich schweife ab.

EARICURA verschlang wahllos ein Jahr nach dem anderen, von diversen „Konsumenten“ der Stadt, in der Reihenfolge, wie sie auf der Perlenkette aufgefädelt worden waren – gelegentlich eines von mir. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Nexus, der sich über meine Zunge durch meinen Kopf bis hinunter zu meinem Bauch ausbreitete, als ER mir die Perle auf die Zunge legte. Mein Herz machte einen Satz, und meine Füße wurden schwach.

Ich kniff die Augen zusammen, atmete durch die Nase und verstärkte meinen geistigen Griff nach den Plätzen in der Stadt. Von diesen Orten floss neue Lebenskraft in mich hinein und füllte das auf, das soeben gestohlen wurde. Voltumnus konnte mahlen, so viel er wollte. Earicura fraß meine Schulden auf, ich kompensierte sie mit der Hilfe der Stadt und war aus dem Schneider. Weder würde ich den Mund schließen, noch diesen magischen Bastard hinunterschlucken.

Earicuras Stimme klang erneut. Diesmal schneidend und schroff: „Sie NICHT! Hör AUF!“

Ogmios bellte – kein einziges Mal hatte ich ihn in der Stadt bellen hören. Als meine Wangen von der kühlen Umgebungsluft berührt wurden, wagte ich es, meinen Kopf zu drehen und die Perle auszuspucken. Er hielt mich nicht mehr fest – im Gegenteil! Voltumnus sah mich erschrocken an, ganz als ob er erst jetzt etwas Offensichtliches begriff! Earicura richtete den Oberkörper auf und musterte mich. … aber Ogmios grinste mich mit einem Hundegrinsen an und nickte mir zu.

Das war zu viel für mich! Ich ergriff die Flucht.

Nicht auf die Treppen kotzen!

Joscelyne dreht sich zum Fenster um, als erwarte sie, dort jemanden zu sehen. Mittlerweile ist der Tag nur noch ein schwaches Glimmen am Horizont.

Ich sprang die Stockwerke im Haus hinunter, so schnell ich konnte, und entdeckte auf der Straße einen nahenden Bus. Ich nahm die Füße erneut in die Hände, und zum Glück wartete der Bus an der Haltestelle auf mich. Als ich mich artig beim Fahrer bedankte und dreimal betonte, dass mit mir alles in Ordnung sei, hielt er endlich die Klappe und fuhr los. Während ich überlegte, was ich als Nächstes tun sollte, fuhr ich die ganze Runde nach Wolfsberg und zurück zum Bahnhof mit.

Ich entschied mich, vernünftig zu sein und nach Hause zu fahren. Weil ich fürchtete, Snake zu begegnen, vermied ich den direkten Weg. Am Bahnhof stand der Bus, der über Cholliny in die Metropole fuhr. Der Plan war gut, doch am Weg hoch auf den Berg durch die Serpentinen setzten die Entzugserscheinungen ein, und ich verließ den Bus an der Kathedrale, um mich zu übergeben. Von den Nachwehen der Droge hatte ich freilich mehr als genug gehört – die überraschten mich nicht. Wohl aber, wie heftig sie waren.

An der Kathedrale befindet sich das Tourismusbüro von Laubelmont. Die öffentliche Toilette liegt am unteren Ende der ebenso bekannten Treppe, die vom Platz davor auf die Burgstraße hinunter führt. Die Treppe ist unter anderem wegen des kunstvoll gestalteten Torbogens ein Selfie-Hotspot. Wenn man die richtige Perspektive wählt, erzeugt der Torbogen den Eindruck, die fotografierte Person mitsamt der Treppe einzurahmen. Meine Freunde und ich sitzen abends meistens wegen des atemberaubenden Ausblicks auf die Unterstadt von Laubelmont am oberen Ende der Treppe – sehr zum Leidwesen der Touristen.

Zum Glück musste ich die Treppen nicht hoch und konnte verhindern, auf dieses ach so wertvolle Laubelmonter Wahrzeichen zu kotzen. Ich erreichte rechtzeitig die erste Kabine der Damentoilette. Selbst wenn ich auf die Stiege gekotzt hätte, wäre das nicht der Grund, warum ich Ausgangssperre habe.

Kobra und Maus

Joscelyne seufzt, richtet sich auf und dreht sich um, um einen Schluck Wasser zu trinken. Zufrieden streicht sie ihre Haare zurück.

Jetzt kommt der schlimmste Teil, Mum.

Joscelyne lehnt sich an das Kopfteil ihres Bettes, zieht die Decke bis zum Hals und legt die Hände in den Schoß. Wieder schließt sie ihre Augen, und nach einigen Atemzügen fängt sie an zu sprechen.

Ich umarmte also die Kloschüssel innig. … da an diesem Ort ein ständiges Kommen und Gehen herrscht und es auch eine Videoüberwachung gibt, die ihren Namen verdient, fühlte ich mich einigermaßen sicher. Aber ich sollte mich irren.

Sie seufzt und ihre Hände beginnen merklich zu zittern:

Keine Ahnung, wie er reinkam, Mum. Auf einmal war er da und rief nach mir. Ich erschrak und drehte mich am Boden sitzend zur Kabinentür um. Sie stand offen – ich hatte keine Zeit gehabt zuzusperren!

Ich sah gerade noch den Zipfel seines Mantels und trat im Affekt die Tür zu! Ich hatte die erste Kabine genommen, und so fand er mich auch gleich. Er stieß dagegen, und ich kam gerade noch rechtzeitig dazu, mich mit dem Rücken am Klo abzustützen und die Beine gegen die Tür zu stemmen. Ich konnte sie aber nicht ausstrecken, weil die Kabine zu kurz war und musste drücken. Jetzt noch die Tür zu verriegeln, wäre unmöglich gewesen. Dann wuchtete er sich mit seinem gesamten Gewicht dagegen, und mir fehlte die Kraft, dem Aufprall standzuhalten. Eines meiner Knie knallte gegen meine Lippe, und ich schmeckte sofort Blut. Plötzlich hockte er vor mir und lachte leise.

Joscelyne starrte ins Leere und flüsterte: „Er hätte alles mit mir machen können. Ich war vor Angst komplett erstarrt.“

Sie starrt auf den Schrank, der auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers steht, und sie wirkt dabei leer und kalt. Am Gang vor Joscelynes Zimmertür ruft jemand laut einen Namen und Joscelyne blinzelt.

Tut mir leid, Mum. Manchmal habe ich das noch. Vielleicht halten mich deswegen alle für blöd.

Snake hatte mich jedenfalls gefunden. Und es war definitiv Snake. Voltumnus war von Ogmios und seiner Herrin gestoppt worden. Aber etwas muss von dem göttlichen Vorhaben in Snakes Geist zurückgeblieben sein. Er sagte nämlich, er habe etwas für mich, das mir noch besser helfen würde als der Blitz. Er wüsste genau, wie ich mich fühle, er sei ja schließlich auch einmal jung gewesen. Er beschrieb mir meine Angst davor, von meinen Gefühlen verraten zu werden, und zog Parallelen zu seinem Leben. Wenn ich wollte, dass es aufhörte, bräuchte ich mir jetzt nur meinen Arm abzubinden.

Joscelyne schaute aus dem dunklen Fenster und hauchte: „Das konnte nur Voltumnus von mir wissen und Snake hatte es … irgendwie … mitangehört?“

Draußen am Gang ermahnt Dara eines der anderen Mädchen, leise zu sein.

Ich wollte das nicht und konnte nur den Kopf schütteln. Snake hatte das wohl erwartet und nahm einfach meinen Arm. Den Gummischlauch hatte er mit zwei gekonnten Handgriffen um meinen Arm geschlungen und packte frisch-fröhlich ein paar Utensilien aus seiner Manteltasche. Ich wusste, was das war … der Löffel … die Nadel sogar frisch verpackt, wie sie in der Drogenberatungsstelle ausliegen.

Joscelyne schüttelte ungläubig den Kopf: „Warum habe ich ihm nicht einfach in die Eier getreten? Er hockte direkt vor meinen Füßen?!

Joscelyne lächelt verzweifelt und erzählt weiter:

Er ist eine verfluchte Königskobra, und ich war eine Maus. Sie seufzt. Als er das Feuerzeug hervorholte, fiel es ihm ein, eine Zigarette rauchen zu wollen. Am liebsten hätte ich ihm eine gereicht, wenn ich so etwas je besessen hätte. Er grinste, während er sein Päckchen mit Tabak suchte. Die Zeit, bis er es fand und bis er endlich den Sprinkler auslöste, verging in Zeitlupentempo. Während dieser Ewigkeit hoffte ich nur, dass mich mein Gesicht nicht verriet. Wie gesagt, ich war schon öfter hier, und dies war nicht der erste Sprinklereinsatz, den ich miterlebte. Wohl aber der erste, in dessen Mitte ich saß und schrie.

Warum Joscelyne Ausgangssperre hat

Joscelyne lächelt, aber diesmal wirklich und mit einem Strahlen im Gesicht.

Mum, die Stadt hat mich gerettet. Mehrmals sogar! Zuerst schickt sie mir MARTINE, die verhinderte, dass Voltumnus weiß Beléna was mit mir machen konnte. Dann schenkte sie mir die KRAFT, um gegen Voltumnus Perlen anzukämpfen. Und schließlich rettete sie mich vor Snake, der … mir unbedingt etwas Besseres geben wollte …

Und jetzt muss ich dir erzählen, warum ich Ausgangssperre habe.

Snake war sofort auf und davon. Ich hingegen war sitzen geblieben, obwohl ich innerhalb einer Sekunde patschnass geworden war. Vielleicht würde draußen Snake auf mich lauern und sein Vorhaben doch noch verwirklichen wollen. Als der Sprinkler abgeschaltet wurde, tappte ich zum Ausgang und lief prompt der Frau aus dem Tourismusbüro in die Arme. Sie war überrascht jemanden hier drin vorzufinden. Eine Passantin rief den Notarzt und dann geschah das Übliche: Kriseninterventionsteam, Notaufnahme, Infusion, Untersuchung, Marco, Sozialarbeiterin, Jugendpsychologin, usw. … das Ende war aber nicht die obligate Runde im Besprechungszimmer der Levana, sondern RUFUS BONDAS BÜRO im Polizeigebäude.

Ausgerechnet BONDA! Mit ihm hatte ich schon mehrmals das Vergnügen, und obwohl ich ihn schon als Arschloch bezeichnet habe, hat er mich nicht eingeknastet. Der Beamte ist wahrscheinlich hierher strafversetzt worden und ist seinem Äußeren nach zur Hälfte Ghanese und Italiener – ich könnte stundenlang sein Gesicht studieren. Er ist der jüngste der Kriminalbeamten hier – was schon heißt, dass er alt ist. Graue Haare hat er aber noch nicht. Wahrscheinlich muss er sich deswegen mit uns Teenagern rumschlagen und darf sich erst später über Viehdiebstähle und Gasthausschlägereien zu den Blutfehden unter den hiesigen Bauerndynastien hocharbeiten. Mir bleibt nur die Hoffnung, dass seine Strafe früher endet und er zurück in die Hauptstadt verschwindet – ich hasse ihn! Ja, er gibt sich Mühe und ist bestimmt ein guter Kerl … aber er hat versucht, mit mir über DAD zu reden, und du weißt, Mum, das ist ein NO-GO!

Joscelyne atmet ein paar Mal tief durch, bevor sie weiterspricht:

Ich schweife schon wieder ab. Also, wie sah mein Fall für den Polizeibeamten Rufus Bonda aus? Man hatte mich mit blutiger Nase und abgebundenem Oberarm vor der Damentoilette gefunden. Drinnen am Klo lagen Tabak, Spritzen und eine große Menge Heroin. Snake, der Depp, hatte in dem Moment, wo der Sprinkler losging, alles liegen lassen. Und ich brachte kein Wort der Erklärung über die Lippen. Wie sollte ich über das, was in den letzten Tagen geschehen war, reden?

Ich schwieg und konnte mir nicht erklären, warum. Keinen Zipfel bekam ich zu fassen, obwohl ich alles, was passiert war, vor mir sehen konnte. Nach einer gefühlten halben Stunde wurden die Leute um mich herum unruhig und drohten mir mit Konsequenzen. Trotzdem blieb ich erstarrt wie eine Maus, und jeder der Anwesenden kannte mich lange genug, um zu wissen, was mein Verhalten bedeutete.

Mich rettete tatsächlich die Videoüberwachung der öffentlichen Toilettenanlage. Dass Snake mich bedroht hatte, erschien Rufus Bonda wesentlich plausibler, als dass ich mit Heroin dealte. Gleichzeitig wurde aber auch klar, dass ich meine Blitze von ihm haben musste und dass diese Sache keine Kleinmädchen-Geschichte mehr war. Verstehst du jetzt, warum ich Ausgangssperre habe, Mum?

Ich sagte kein Wort. Zuerst, weil ich nicht anders konnte, aber seit konkrete Anzeigen gegen mich im Raum stehen, absichtlich. Wenn sie mich nicht besser kennen, ist das deren Schuld. Schweigen ist ab jetzt wohl meine neue Superkraft. … aber du hast recht, Mum. Mit irgendjemanden muss ich über diesen Vorfall reden.

Joscelyne kramt aus ihrem Nachtkästchen die Visitenkarte von Trixie Escort heraus, auf der Martine Surminskas Name steht.

Was meinst du, Mum? Vielleicht kann ich ja ihr alles erzählen?

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von JamesVermont
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JamesVermont aus Klagenfurt am Wörthersee ist Gestalter, Autor, Trommler und Vater 2er Kinder.

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