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Kapitel Drei – die Stadtseele

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Kann eine Stadt eine Seele haben? Was hat Batman damit zu tun? Und wo habe ich die Idee für die Stadtseele überhaupt her? Wie die Mythen und Legenden einer fiktiven Welt die Rahmenhandlung eines Roman beeinflussen und wo die Grenzen zu deren realen Vorbildern sind.

Es war einmal …

  1. Es war einmal eine lange Autofahrt nach England, irgendwo in den endlosen Feldern Frankreichs, als ich eine Kathedrale auf einem Tafelberg stehen sah.*
  2. Es war einmal eine – nennen wir sie Mondelfe, die mich anrief und erzählte: Oida, wir drahn an Füm!**
  3. Und es war einmal Google-Maps, in dem ich auf ein Stück Land stieß, das mich in Staunen versetzte***

Mehr brauchte es nicht, um die zentrale Szene im dritten Kapitel entstehen zu lassen, von der ich dir hier erzählen möchte. Es ist schon merkwürdig, welche Versatzstücke in einem Autorenhirn zusammen kommen, um eine Idee reifen zu lassen. Aber ich finde, dass das kennzeichnend für das Leben als Mensch. Wir sind laufend das Produkt unserer Erfahrungen, die sich anhand einer willkürlichen Struktur aneinanderreihen und unser Bewusstsein formen. Ähnlich verhält es sich mit den Wegen, auf denen wir Menschen kennen lernen. Aber bevor es jetzt noch tiefgründiger wird, lass uns die zentrale Szene im dritten Kapitel meines Romans anschauen.

Joscelyne und ihre Freunde treffen sich, um von der Stadtseele Laubelmonts einen Orakelspruch zu erhalten. Sie wollen wissen, wie sie die zersplitterte Göttin Beléna wieder zusammensetzen können, nachdem sie den ersten Splitter gefunden haben. Die Szene spielt in einem Lost Place, und zwar in einem sogenannten Ringlokschuppen, der in einem ehemaligen Bahnbetriebswerk steht. Dort führen die sechs ein Ritual durch, in dem sie zwar einen Orakelspruch erhalten, allerdings einen ganz anderen, als erwartet.

*** Falls du nicht weißt, was ein Bahnbetriebswerk ist, hole ich mal eben den Eisenbahn-Nerd aus meinem Persönlichkeitskoffer:

Im Bahnbetriebswerk werden Lokomotiven gewartet. Mancherorts stammen die Anlagen noch aus der Dampflokzeit und werden heute von Museumsbahnen genutzt. Je nach Anzahl der zu wartenden Fahrzeugen, waren das oft riesige Werksgelände. Der Ringlokschuppen ist eine Abstellhalle, die rund um eine Drehscheibe angeordnet ist. Mit Drehscheiben hat man Dampfloks umgedreht, weil die rückwärts nicht gleich schnell fahren konnten wie vorwärts. Fotos gibt es im verlinkten Wiki-Artikel.

Je nachdem wie weit die Drehscheibe umbaut wurde, ergibt sich eine recht interessante architektonische Wirkung, wenn man davor steht. Die Größe des Gebäude hängt aus geometrischen Gründen von dem Durchmesser der Scheibe ab und somit auch die Anzahl der möglichen Abstellplätze. In Laubelmont ist das riesig und somit eine, für eine Herrscherin der Stadt, würdige Residenz. Übrigens war das der Ort, den ich auf Google-Maps gefunden hatte. Es war ein verfallener Lokschuppen, mitten in einem Birkenwäldchen.

Auf der Suche nach der Stadtseele

Was es bedeutet, wenn alles eine Seele hat

Das Thema Stadtseele würde ich gerne etwas ausführlicher beleuchten, weil diese Figur für meine Romanreihe sehr zentral ist. Bevor wir das tun, möchte ich aber noch schnell definieren, was ich unter einer Seele verstehe. Religionswisschenschaftliche oder anthropologische Definitionen kann ich allerdings nicht liefern, jedoch eine persönliche Zusammenfassung von gefährlichem Halbwissen. Die Seele ist sowohl eine Essenz, als auch die Keimzelle eines Bewusstseins. Je nach Zugang gilt die Seele als unsterblich und wird wiedergeboren, wobei sie jedes Mal ein einzigartiges Bewusstsein ausbildet.

** Aber was bedeutet es, die Seele einer Stadt zu sein? Mit der Frage kommen wir zum Zitat meiner Bekannten oben. Oida, wir drahn an Füm!

Für mich ist die Betrachtungsweise, dass alles beseelt ist, nicht ungewöhnlich. Bei Haustieren gilt diese Betrachtungsweise bestimmt als legitim, vielleicht auch bei einem Auto. Spätestens jedoch, wenn es um einen Baum geht, hört das Verständnis dafür auf. Dabei ist diese Betrachtungsweise ein gut geeigneter Ansatz, um achtsam mit seiner Umwelt umzugehen. Dass ein Auto nicht lebt wie ein Mensch, ist klar, aber ist in diesem Blechhaufen vielleicht ein Funken enthalten, der doch lebt? Ich kann ihn erkennen. Und wenn es mir dabei hilft, den einen lockeren Radbolzen zu entdecken, bevor ich ihn verliere, soll es mir recht sein. Vergleichbar mit der Seele eines Lebewesens ist sie jedoch nicht. Es ist anders.

Doch was bedeutete das für eine Stadt? Müsste die Stadtseele dann nicht riesig sein und super mächtig? Könnte der Flair oder der Vibe einer Stadt ein erahnbares Stück dieser Stadtseele sein? Ich denke, dass es möglich ist. Jedoch ist die Seele endlos wie die Zeitspanne, in der die Stadt existiert. Sie ist einzigartig und geprägt von dem Leben, das in ihr stattfand und stattfindet. Wie auch die Einwohnerinnen von der Stadt prägt werden.

Bild: Patherion Beschwörung der Stadtseele, Jörg Vogeltanz, pantherion.at

Und dann erzählte mir diese jene Mondelfe, dass ihre Freunde und paar unserer gemeinsamen Bekannten einen Film drehen. Zwei Jahre später saß ich im Kino, und sah dabei zu, wie im Zuge des Abenteuers die Stadtseele von Graz beschworen wird. Was zwischen meinen damaligen Peers in den Foren der Zehnerjahre besprochen und an Lagerfeuern ausprobiert wurde, war für jeden sichtbar geworden. Bei mir geriet diese Idee zunächst in Vergessenheit und anderen Ideen des Pantherion-Projekts standen im Vordergrund. Vielleicht erzähle ich davon in dem geplanten Artikel zu meinem Werdegang als Schriftsteller.

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Die göttliche Landschaft

Ben Aaronovitch mit den Flüssen von London brachte die Idee der Stadtseele in mein Bewusstsein zurück. Bei ihm sind die Wasserläufe von London Göttinnen und Götter und stecken in menschlichen Körpern – was vom erzählerischen her einfach genial ist. Diese Götter repräsentieren einen Aspekt der Natur und machen ihn damit für uns Menschen zugänglich. Das Konzept kennen wir aus der Eisenzeit, in der die Bewohner:innen eines Landstrichs diesem und anderen markanten Orten in ihrer Umgebung einen Namen gaben und ihn kultisch verehrten. Bestes Beispiel ist Noreia, die sowohl Göttin, als auch Landstrich ist. Vielleicht kommt dieses Konzept der Idee der Stadtseelen am nächsten?

Aus erzählerischer Sicht werden die Attribute der Stadt genommen und auf einen Menschen übertragen. Bei Aaronovitch ist die Themse, als der Hauptfluss des Landstrichs, die oberste Gottheit und eine schwarze, afrikanische Frau, die sehr ungemütlich werden kann, wenn sie ihren Obolus in Form von Alkohol nicht bekommt. Dem nicht genug, teilt der Autor die Themse an einem bestimmten Wehr in einen Oberlauf und einen Unterlauf. Das Ergebnis ist, dass es auch einen Herr-Themse gibt und der ist ein weiser Mann. An dem Streit, dieses ungleichen Ehepaars, die sich gegenseitig nicht ausstehen können, und obendrein noch Flusskinder haben (weil Flüsse in die Themse münden), sowie an den kulturellen und geschichtlichen Hintergründen, den dieser Rosenkrieg beinhaltet, kann man an der Geschichte Londons ablesen. In dem Moment, an dem ich das erkannte, machte es in meinem Kopf Klick und ich erinnerte mich an die Filmszene meiner Freunde. Mir wurde klar, das würde mein Ding werden.

Was sich mit der Stadtseele machen lässt, lässt sich übrigens auch mit Schurken machen. Ich weiß zu wenig über Punch and Judie, die im ersten Band von Die Flüsse von London vorkommen. Aber ich weiß genug über die Pest in Wien, um Werner Skibars Figur des Augustins in seiner Kurzromanserie Morbus zu verstehen, die ebenfalls zum Pantherion-Universum gehört. Lokale Legenden und Sagen – wie der Augustin in Wien – sind ebenfalls Teil der Stadtseele. Aber meistens sind diese Erzählungen sehr archaisch und können schwer für moderne Stoffe genutzt werden. Und dann kommt es darauf an, wer diese Erzählungen zu welchem Zweck und welcher Geisteshaltung aufgeschrieben hat, denn das bestimmt den Ausgangspunkt der Interpretation. Liegt dieser jedoch zu weit von der Prämisse meines Textes entfernt, ist der sagenhafte Kern für die Leserschaft nicht mehr erkennbar und die archaischen Motive des Ausgangsmaterials wirken in dem modernen Text wie ein Fremdkörper. Weil mir das bei Anjas Schnitt passiert ist, habe ich beschlossen, die Sagen und Legenden für meine Welt gleich selbst zu erfinden.

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Meine Version der Stadtseele

* Und jetzt bin ich bei meinem dritten und letzten Punkt, den ich in der Einleitung genannt habe. Ich habe mich gefragt, welche Geschichte man sich über einen Ort erzählen müsste, an dem eine Kathedrale auf einem Berg steht.

Wie in dem fiktiven Ort namens Rocky Beach die Geschichte von Fred Fireman erzählt wird (die drei Fragezeichen-Kids), so brauchte auch ich einen lokalen Helden. In Laubelmont ist es ein Heiliger namens Ullrich, der einst einen Märtyrertod gestorben war – was, na klar, nur die halbe Wahrheit ist. Wenn du Eyionnes Mitgefühl hier auf meinem Blog schon gelesen hast, bist du dieser Figur schon begegnet. Ullrich schiebt Eyionnes Rollstuhl.

Ullrich ist aber nicht die Stadtseele. An irgendeiner Stelle muss sie ja ins Spiel kommen? Und genau jetzt kann man sich fragen, was die Figur Batman jemals für uns getan hat. Batman hat uns beigebracht, dass jeder Held einen Schatten hat und das ist in meinem Fall eine Frau. Weil Frauen viel zu oft im Schatten von Männern stehen müssen, die sie groß gemacht haben. Zwar wurde die Kathedrale in Laubelmont im Namen dieser Frau geweiht (zur guten Mutter), aber mehr Ruhm blieb für sie nicht übrig. Weil wir Schreibenden in Punkto Leid, bei unseren Protagonist:innen dazu neigen, stets noch eine Schippe drauf zu legen, ist die Stadtseele von Laubelmont auch noch von „der Fessel“ betroffen. Dabei handelt es sich um einen art Fluch, über den ich erst in einem der nächsten Bände zu sprechen kommen werde.

Jedenfalls sorgt die Fessel dafür, dass die Stadtseele von Laubelmont ein Doppelleben führt. Unter Tags ist sie als Mutter mit Zwillingssöhnen im Kinderwagen in der Altstadt unterwegs; Nachts hält sie Hof im Ringlokschuppen und gammelt in Gestalt einer Popsängerin auf ihrem Thorn herum. Und so wie man sich fragen kann, ob Batman nicht der Schatten des Übeltäters ist, den er jagt, darf man sich hier gerne fragen, ob die Stadtseele die Schurkin ist. Oftmals reicht es für eine Schurkin gehalten zu werden, um eine gute Geschichte erzählen zu können und das ist hier der Fall.

Das war jetzt nerdig

Sollte dir beim Lesen der Kopf schwirren, sei dir sicher, dass es mir beim Schreiben dieses Artikels nicht anders gegangen ist. Aber oft macht es Spaß sich in solche Themenblöcke zu fräsen und die Angelegenheit aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten. Übrigens habe ich der Stadtseele von Linz auch schon einen Besuch abgestattet. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden. Wenn du Fragen oder Anregungen für mich hast, lass’ einen Kommentar da, ansonsten Danke für den Klick.

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von JamesVermont
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JamesVermont aus Klagenfurt am Wörthersee ist Gestalter, Autor, Trommler und Vater 2er Kinder.

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